In einer heißen Sommernacht
Fehler und stellte die Dominosteine immer in nummerisch richtiger Reihenfolge auf, obwohl er sie blind auswählte, da sie verdeckt lagen.
Morgens gleich nach dem Frühstück hatte Ella Margaret mit einem Brief zur Arztpraxis geschickt, in dem sie kurz beschrieb, was am Abend zuvor geschehen war, und in dem sie darum bat, mit Solly zu einem Beratungsgespräch vorbeikommen zu dürfen. Sie benutzte absichtlich nicht das Telefon, um mit dem Doktor Kontakt aufzunehmen, weil sie der Frau in der Vermittlungsstelle misstraute, die dafür bekannt war, dass sie Gespräche heimlich mithörte. Bevor Ella keine Erklärung für Sollys seltene Begabung hatte, wollte sie nicht zum Stadtgespräch werden.
Die Leute neigten dazu, sich vor jedem zu fürchten, der anders war. Manche vertraten eine besonders engstirnige Haltung gegenüber geistig Zurückgebliebenen und waren überzeugt, man müsse diese zum Wohl und zur Sicherheit ihrer eigenen Person und der anderen isolieren.
Ella erinnerte sich an einen Jungen mit Down-Syndrom in ihrer Kindheit, der Dooley hieß. Er war harmlos, sogar sehr lieb und freundlich. Aber ihm fehlte die Zurückhaltung, die man mit der Zeit lernt, und seine offene Freundlichkeit löste bei manchen Menschen Unbehagen aus.
Eines Tages spazierte er in den Garten einer Witwe, wahrscheinlich ohne jede böse Absicht, wie Ella vermutete, und schaute zufällig durch das Schlafzimmerfenster, wo die Frau sich gerade ausgezogen hatte. Sie schrie Zeter und Mordio, und Dooley wurde in eine Klinik für Geisteskranke im Osten von Texas gebracht, wo er später starb.
Ella lebte in der ständigen Angst, dass eine Zwangseinweisung eines Tages auch Sollys Schicksal wäre. Eine einzige Tat, so wie Dooleys harmloses Durchs-Fenster-Spähen, konnte zur Folge haben, dass man ihr Solly wegnahm und ihn einsperrte. Aus diesem Grund überwachte sie ihn genau. Sie wusste, dass ein kleiner Vorfall genügte, um eine Welle des Argwohns und der Angst vor ihrem Sohn auszulösen.
Doktor Kincaid hatte Margaret die Nachricht mitgegeben, dass er Ella um drei Uhr empfangen würde, was außerhalb der regulären Praxiszeiten war. Mr Rainwater hatte gefragt, ob er sie begleiten dürfte, und Ella hatte eingewilligt. Schließlich war er es gewesen, der Sollys Fähigkeit entdeckt hatte. Sie fuhren mit seinem Wagen in die Stadt.
Mrs Kincaid hatte sie in ein vollgestopftes Arztzimmer geführt und ihnen gesagt, dass der Doktor gleich käme. Sie hatte ihnen etwas zu trinken angeboten, aber beide lehnten ab, allerdings duldete Ella, dass Solly eine Zuckerstange bekam. Sie mussten nur ein, zwei Minuten warten, bis der Arzt mit einer Schachtel Dominosteine erschien.
Ella spürte, dass ihr Puls stieg, als Mr Rainwater mit dem Ritual begann und die Steine auf dem zerkratzten Schreibtisch des Doktors mischte, bevor er sie umdrehte. Aber Solly machte seine Sache so gut wie am Abend zuvor. Doktor Kincaid schüttelte verwundert den Kopf, dann lehnte er sich auf seinem quietschenden Stuhl zurück und machte diese überraschende und rätselhafte Bemerkung.
» Inselbegabung?«, wiederholte Ella.
Da der Arzt ihre Verwirrung spürte, sagte er: » Ich weiß, das ist keine besonders glückliche Bezeichnung. Aber solange die medizinische Fachwelt keinen besseren Begriff dafür findet, ist dies die Bezeichnung für diese spezielle Anomalie.«
» Anomalie«, wiederholte sie, um sich an das Wort zu gewöhnen. » Und was genau ist das?«
» Genau kann das keiner sagen.« Doktor Kincaid deutete auf das medizinische Fachbuch auf seinem Schreibtisch, das aufgeschlagen und sehr eng bedruckt war. » Ist Ihnen der IQ ein Begriff, die Abkürzung für Intelligenzquotient? Das ist ein relativ neuer Fachausdruck, der das intellektuelle Leistungsvermögen eines Menschen bewertet.«
Ella und Mr Rainwater erwiderten, dass sie davon schon gehört hatten.
» Heute gilt ein Mensch mit einem IQ unter zwanzig als geistig stark unterentwickelt. Aber jahrhundertelang galten Menschen mit so einem geringen IQ als schwachsinnig.« Der Doktor setzte eine Lesebrille auf und konsultierte das Buch. » Im späten neunzehnten Jahrhundert untersuchte ein deutscher Arzt Patienten mit klassischen Symptomen einer geistigen Störung, unabhängig davon, ob sie darunter von Geburt an litten oder durch ein späteres Trauma. Diese Patienten besaßen zugleich unheimliche, geradezu übernatürliche Fähigkeiten. In der Regel handelte es sich um außergewöhnlich mathematisch und musikalisch Begabte oder
Weitere Kostenlose Bücher