In einer heißen Sommernacht
sagen darüber so gut wie nichts aus. Die Kriterien für die Diagnose sind umstritten und ändern sich ständig. Das Einzige, was die Fälle gemeinsam haben, ist, dass sie wenig gemeinsam haben. Jeder Fall ist anders. Die Symptome und ihre Schwere variieren. Manche Betroffene erwerben sprachliche Fähigkeiten und sind in der Lage, in beschränktem Umfang zu kommunizieren. Aber die außergewöhnlichen Einzelbegabungen werden selten praktisch genutzt.«
Mr Rainwater bat ihn, das näher zu erläutern.
Der Doktor überlegte kurz. » Nehmen wir zum Beispiel eine Person mit einem erstaunlichen Gedächtnis, die eines Tages vielleicht ein Stück von Shakespeare liest und danach in der Lage ist, den gesamten Text Wort für Wort zu zitieren. Sie tut das aus keinem anderen Grund als dem, dass sie dazu fähig ist. Sie prägt sich den Text nicht ein, weil sie ihn auswendig lernen möchte. Und sie liest ihn auch nicht, weil sie neugierig ist, wie die Geschichte ausgeht. Sie hat kein Interesse an dem Stück selbst. Die Worte bedeuten ihr nicht mehr als die Einträge in einem Telefonbuch. Was sie auch liest, wird verinnerlicht. Es geht ihr nicht um Aufklärung oder Unterhaltung.«
» Aber sie ist in der Lage, Shakespeare zu lesen«, sagte Ella.
Der Arzt hatte wohl ihren optimistischen Unterton wahrgenommen und schien nicht glücklich darüber, dass er ihre Hoffnung zerschlagen musste. » Manche Inselbegabte können lesen, Mrs Barron, das ist richtig. Andere wiederum können weder lesen noch sprechen oder auf irgendeine Art kommunizieren, dafür spielen sie aber auf wundersame Weise die schwierigsten Kompositionen auf dem Klavier nach nur einmaligem Hören. Manche ziehen sich innerlich zurück wie Solly und wehren sich gegen körperliche Nähe. Dennoch können sie hochkomplizierte mathematische Aufgaben im Nu lösen, für die selbst ein genialer Mathematiker Tage brauchen würde.« Er hob hilflos die Hände.
Die Wahrheit ist, ich freue mich, dass Sie Sollys Begabung entdeckt haben. Aber ich kann sie weder erklären noch Aussagen darüber treffen, ob sie wertvoll für ihn ist. Ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, dass er irgendwann das Sprechen lernt. Ich weiß es einfach nicht, Mrs Barron. Und ich fürchte, das weiß niemand.«
Doktor Kincaids Resümee über Sollys Zustand hätte Ellas Begeisterung über seine unglaubliche Fähigkeit eigentlich dämpfen müssen, aber sie ließ das nicht zu. Stattdessen betrachtete sie es als einen riesigen Fortschritt in ihren Bemühungen, ihren Sohn zu erreichen. Es war, als hätte sich ein kleiner Spalt in der Wand aufgetan, hinter der sein Geist und seine Persönlichkeit verbarrikadiert waren.
Nachdem sie nun diesen kleinen Spalt entdeckt hatte, nahm sie sich vor, ihn zu vergrößern, groß genug, wie sie hoffte, um sich durchzuzwängen. Es war Ellas Herzenswunsch, einen Weg der Verständigung mit Solly zu finden, egal, wie schmal dieser sein mochte.
So stahl sie sich jeden Tag von ihren häuslichen Pflichten fort, um mehr Zeit mit Solly zu verbringen. Sie malte die Punkte von Dominosteinen aufPapier. Dann legte sie Solly den Stift hin in der Hoffnung, er würde selber Punkte malen und so lernen, dass bestimmte Punktemuster eine Zahl darstellten, und dass man Zahlen addieren und subtrahieren konnte, um andere Zahlen zu erhalten.
Aber Solly griff kein einziges Mal nach dem Stift und zeigte nicht das geringste Interesse, selber Punkte zu malen. Als Ella seine Hand nahm, um den Stift zu führen, bekam er einen Anfall. Er schlug den Kopf gegen ihr Kinn und verpasste ihr einen Bluterguss, den man tagelang sehen konnte. Also gab sie es vorerst auf, ihn dazu zu bringen, Punkte zu malen, und griff auf die Dominosteine zurück. Das Spiel stimmte Solly friedlich und ließ sie weiter auf den nächsten Durchbruch hoffen.
Eines Abends saß Solly auf dem Küchenboden und stellte die Dominosteine auf, während Ella Handtücher und Waschlappen zusammenlegte. Mr Rainwater kam herein, um eine benutzte Kaffeetasse zurückzubringen.
Er bemerkte: » Ich sehe, dass Solly sein Interesse nicht verloren hat.«
» Nein. Aber er macht auch keine Fortschritte.« Sie beschrieb ihm ihre Enttäuschung darüber, dass ihr Sohn nicht begreifen wollte, dass man Dominopunkte auf Papier malen konnte. » Ich habe gehofft, dass er begreift, dass die Punkte eine Zahl darstellen und dass Zahlen eine Bedeutung haben.«
» Vielleicht versteht er das ja. Wenn nicht, würde er wohl kaum die Steine immer in der
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