In einer kleinen Stad
einen Bastard zu nennen?
Sie war wegen irgend etwas wütend, richtig? Na schön, dann war sie eben wütend. Vielleicht hatte er ihr sogar einen Grund dazu geliefert. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was das gewesen sein könnte, aber sagen wir einmal (rein hypothetisch), er hätte es getan. Gab ihr das das Recht, gleich in die Luft zu gehen, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, sie um eine Erklärung zu bitten? Gab ihr das das Recht, sich bei Irene Lutjens aufzuhalten, damit er nicht da hineinplatzen konnte, wo sie sich gerade befand, oder auf seine Anrufe nicht zu reagieren oder Mona Lawless als Zwischenträgerin zu benutzen?
Ich werde sie finden, dachte Lester, und ich werde herausbekommen, was sie in den falschen Hals bekommen hat. Und dann, wenn es heraus ist, können wir uns wieder versöhnen. Und danach werde ich ihr den Vortrag halten, den ich bei Beginn des Basketball-Trainings immer vor den Anfängern halte – darüber, daß Vertrauen der Schlüssel zu erfolgreichem Teamwork ist.
Er streifte seinen Rucksack ab, warf ihn auf den Rücksitz und stieg in seinen Wagen. Und dann sah er, daß etwas unter dem Beifahrersitz hervorragte. Etwas Schwarzes. Es sah aus wie eine Brieftasche.
Lester griff begierig danach. Zuerst dachte er, es müsse sich um Sallys Brieftasche handeln. Wenn sie sie irgendwann im Laufe des langen Wochenendes in seinem Wagen verloren hatte, mußte sie sie inzwischen vermissen. Sie würde nervös sein. Und wenn er sie von ihrer Besorgnis wegen der verlorenen Brieftasche erlöste, dann würde der Rest ihrer Unterhaltung vielleicht ein wenig leichter sein.
Aber es war nicht Sallys Brieftasche; das sah er, sobald er einen genaueren Blick auf den Gegenstand werfen konnte, der unter dem Beifahrersitz gelegen hatte. Sie war aus schwarzem Leder. Sallys Brieftasche war aus blauem Wildleder, ziemlich abgeschabt und wesentlich kleiner.
Neugierig schlug er sie auf. Das erste, was er sah, traf ihn wie ein harter Schlag in den Solarplexus. Es war John LaPointes Führerschein.
Was in Gottes Namen hatte John LaPointe in seinem Wagen gemacht?
Sally hatte den Wagen über das ganze Wochenende, flüsterte sein Verstand. Also was zum Teufel glaubst du, was er darin gemacht hat?
»Nein«, sagte er. »Ausgeschlossen – das würde sie nicht tun. Mit ihm würde sie sich nicht treffen. Ganz bestimmt nicht.«
Aber sie hatte sich mit ihm getroffen. Sie und Deputy John LaPointe waren mehr als ein Jahr miteinander gegangen, ungeachtet der feindseligen Gefühle, die sich zwischen den Katholiken und den Baptisten von Castle Rock entwickelt hatten. Sie hatten vor dem gegenwärtigen Streit über die Kasino-Nacht miteinander gebrochen, aber...
Lester stieg wieder aus und blätterte die Plastikhüllen der Brieftasche durch. Sein Gefühl der Fassungslosigkeit wuchs. Hier war John LaPointes Dienstausweis – auf dem Foto hatte er noch den kleinen Schnurrbart, den er getragen hatte, als er mit Sally ging. Lester wußte, wie manche Leute einen solchen Schnurrbart nannten: Katzenkitzler. Hier war John LaPointes Angelschein. Hier war ein Foto von John LaPointes Eltern. Hier war sein Jagdschein. Und hier – hier...
Lester starrte wie gebannt auf den Schnappschuß, auf den er gestoßen war. Es war ein Schnappschuß von John und Sally. Ein Schnappschuß von einem Mann und seinem Mädchen. Sie standen vor etwas, das aussah wie eine Schießbude. Sie sahen sich an und lachten. Sally hielt einen großen Teddybären im Arm. LaPointe hatte ihn offenbar gerade für sie gewonnen.
Lester starrte das Foto an. In der Mitte seiner Stirn war eine Ader hervorgetreten, und sie pulsierte stetig.
Wie hatte sie ihn genannt? Einen verlogenen Bastard?
»Und was ist sie?« murmelte Lester Pratt.
Wut staute sich in ihm auf. Es passierte sehr schnell. Und als jemand seine Schulter berührte, fuhr er herum, ließ die Brieftasche fallen und ballte die Fäuste. Es fehlte nicht viel, und er hätte den harmlosen, stotternden Slopey Dodd in die Mitte der nächsten Woche befördert.
»T-t-t-rainer P-pratt?« fragte Slopey. Seine Augen waren groß und rund, aber er wirkte nicht verängstigt. Interessiert, aber nicht verängstigt. »F-f-fehlt Ihnen e-e-twas?«
»Nein«, sagte Lester dumpf. »Geh nach Hause, Slopey. Zieh Leine. Mit diesem Skateboard hast du auf dem Parkplatz nichts zu suchen.«
Er bückte sich, um die heruntergefallene Brieftasche aufzuheben, aber Slopey war der Erde einen halben Meter näher und kam ihm zuvor. Er betrachtete
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