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In einer kleinen Stad

In einer kleinen Stad

Titel: In einer kleinen Stad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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und ihren hübschen Hosenanzug ausziehen würde, von ihrem Büstenhalter ganz zu schweigen, um in hautenge Jeans und ein ebenso hautenges T-Shirt zu schlüpfen, unter dem sich ihre Brustwarzen abzeichneten. Ihre Augen sagten all das und noch mehr, und obwohl der Bescheid des Amtes mit der Post gekommen war, hatte Polly sofort gewußt, daß der Antrag abgelehnt werden würde. Bei den ersten beiden Malen hatte sie geweint, als sie das Gebäude verließ, und jetzt war ihr, als könnte sie sich noch an das heiße Brennen jeder einzelnen Träne erinnern, die ihr über die Wangen gerollt war. Daran und an die Art, auf die die Leute auf der Straße sie angesehen hatten. Keine Spur von Mitgefühl in ihren Augen; nur unbeteiligte Neugierde.
    Sie hatte nie wieder an diese Zeit oder an diesen düsteren Flur im ersten Stock denken wollen, aber jetzt war alles wieder da – so deutlich, daß sie das Bohnerwachs riechen, das milchige Licht des großen Fensters sehen, das hallende Klappern alter, mechanischer Schreibmaschinen hören konnte, die sich in den Eingeweiden der Bürokratie durch einen weiteren Tag hindurchfraßen.
    Was konnten sie wollen? Lieber Gott, was konnten die Leute aus 666 Geary Street nach so langer Zeit von ihr wollen?
    Zerreiß den Brief! meldete sich fast schreiend eine Stimme in ihr zu Wort, und der Befehl war so eindringlich, daß sie nahe daran war, es zu tun. Statt dessen riß sie den Umschlag auf. Drinnen lag eine einzelnes Blatt Papier. Es war eine Fotokopie. Und obwohl der Umschlag an sie adressiert war, stellte sie verblüfft fest, daß der Brief es nicht war; er war an Sheriff Alan Pangborn gerichtet.
    Ihre Augen fielen auf die untere Hälfte des Blattes. Der unter die hingekritzelte Unterschrift getippte Name lautete John L. Perlmutter, und bei diesem Namen läutete in ihr eine ganz leise Glocke. Ihre Augen senkten sich noch ein wenig tiefer, und sie sah, an der Unterkante des Briefes, die Anmerkung »Kopie an: Patricia Chalmers«. Nun, dies war eine Kopie, und das klärte den verblüffenden Umstand, daß der Brief an Alan gerichtet war (und erlöste sie von dem ersten, verwirrten Gedanken, er könnte ihr irrtümlich zugestellt worden sein). Aber was in Gottes Namen...
    Polly setzte sich auf die Dielenbank und begann, den Brief zu lesen. Während sie es tat, strich eine bemerkenswerte Folge von Emotionen über ihr Gesicht wie Wolkenformationen an einem unruhigen, windigen Tag: Verblüffung, Begreifen, Scham, Entsetzen, Zorn und schließlich Wut. Einmal schrie sie laut auf – » Nein!« -, dann kehrte sie an den Anfang zurück und zwang sich, den Brief noch einmal zu lesen, langsam, von der ersten bis zur letzten Zeile.
    San Francisco Department of Child Welfare
666 Geary Street
San Francisco, California 94112
23. September 1991
     
    Sheriff Alan J. Pangborn
Castle County Sheriffs Office
2 The Municipal Building
Castle Rock, Maine 04055
     
    Sehr geehrter Sheriff Pangborn,
    ich bestätige den Eingang Ihres Briefes vom 1. September und teile Ihnen hierdurch mit, daß ich Ihnen in dieser Angelegenheit nicht dienlich sein kann. Es gehört zu den Grundsätzen dieses Amtes, Informationen über Antragsteller auf Unterstützung für unmündige Kinder nur herauszugeben, wenn wir durch einen gültigen Gerichtsbeschluß dazu gezwungen sind. Ich habe Ihren Brief Martin D. Chung gezeigt, unserem juristischen Berater, und er hat mich angewiesen, Ihnen mitzuteilen, daß eine Kopie Ihres Briefes an das Büro des Justizministers von Kalifornien weitergeleitet wurde. Mr. Chung hat ein Gutachten darüber angefordert, ob Ihre Anfrage als solche rechtswidrig ist. Ungeachtet des Ergebnisses dieses Gutachtens kann ich Ihnen nur sagen, daß ich Ihre Neugierde, was das Leben dieser Frau in San Francisco betrifft, für ungehörig und widerwärtig halte.
    Ich empfehle Ihnen, diese Sache auf sich beruhen zu lassen, bevor Sie in juristische Schwierigkeiten geraten.
    Mit freundlichen Grüßen
john L. Perlmutter
Stellvertretender Direktor
    Kopie an: Patricia Chalmers
    Nachdem sie diesen grauenhaften Brief zum viertenmal gelesen hatte, erhob sich Polly von der Bank und ging in die Küche. Sie ging langsam und anmutig, eher wie jemand der schwimmt, als wie jemand, der geht. Anfangs waren ihre Augen verwirrt und glasig, aber als sie den Hörer von dem an der Wand hängenden Telefon abgenommen und die Nummer des Sheriffbüros mit Hilfe der übergroßen Tasten eingegeben hatte, waren sie wieder klar. Der Ausdruck, der sie

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