In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
spüren ein wenig unser schlechtes Gewissen, weil wir wahrscheinlich nicht so weit gehen würden. Sobald wir zugeben, daß Jamie den Mut hatte, so etwas zu tun, sind wir gezwungen, zuzugeben, daß wir es nicht tun würden. Daß wir nicht so stark sind oder so stark für unsere Partner oder Geliebten empfinden.
Es ist höchst eigenartig, bei einer Verhandlung wie dieser über die Liebe zu sprechen. Viel öfter hört man vor Gericht von Haß. Der Haß trieb ihn dazu, sein Gewehr herauszuholen und alle Passagiere in der Long Island Railroad niederzuschießen. Der Haß trieb ihn dazu, eine Bombe in einen Londoner Pub zu werfen. Wir glauben sofort, daß der Haß einen Menschen zu einer Wahnsinnstat treiben kann. Warum also nicht auch die Liebe?
Schließlich kann uns die Liebe genauso um den Verstand bringen wie der Haß. Die Liebe kann einem Menschen die Vernunft rauben. Wer kennt solche Sprüche nicht: Ach, von dem kannst du nichts anderes erwarten. Der ist verliebt. Oder Liebe macht blind. Oder Liebe überwindet alle Schranken. Bedenken Sie, welche Kraft wir der Liebe in unseren Sprichwörtern zumessen! Kann überhaupt ein Zweifel daran bestehen, daß wir ihr ausgeliefert sind?«
Graham kehrte zu seinem Klienten zurück, so daß die Geschworenen auch Jamie im Blickfeld haben würden. »Wenn es eine Möglichkeit gäbe, die Liebe wie das Verhaftungsprotokoll als Beweismittel zu den Akten zu geben, dann hätte ich das getan. Doch das ist nicht möglich. Ich möchte Sie jedoch bitten, folgendes im Kopf zu behalten: Jamie ist ein großer Mann. Ein Meter dreiundneunzig und in guter physischer Verfassung. Ein kräftiger Kerl. Trotzdem konnte er sich nicht vor der Liebe schützen. Während der Belastung, unter der er seit Monaten stand, hat sie sich als stärker erwiesen als sein Urteilsvermögen, stärker als alles, was man ihm als richtig oder falsch beigebracht hat. Wenn Jamie ein Verbrechen begangen hat, dann jenes, daß er seine Ehefrau zu sehr liebte. Sollte man ihn dafür bestrafen?«
Graham setzte sich. Es war 9 Uhr 52.
Audra Campbell nahm Jamie ins Visier. »Wenn wir Maggie MacDonald wieder gesund und munter machen könnten, übernähme das jeder von uns bestimmt liebend gern.« Sie drehte sich zu den Geschworenen um. »Seit den vergangenen zwei Wochen wird in diesem Gerichtssaal soviel von Trauer und Menschlichkeit gesprochen, daß sich unsere Herzen leicht in diesen Strom begeben und wir vergessen, worum es in Wahrheit geht. Doch wenn wir die Gefühle einmal beiseite lassen, dann bleiben nur die nackten Tatsachen.«
Sie nahm vor der Geschworenenbank ihre Wanderung auf, blickte hin und wieder dem einen oder anderen ins Auge. »Mr. MacDonald hat keine Vorstrafen. Er versteht sich auszudrücken, ist intelligent und ein guter Staatsbürger. Mr. MacPhee möchte Sie glauben machen, daß aufgrund dieser Dinge sein Klient nicht entsprechend der Vorgaben unseres Rechtssystems verurteilt werden sollte. Das Gesetz sagt jedoch nicht, daß man, wenn man bis zu einem bestimmten Punkt ein vorbildliches Leben geführt hat, auf einmal durchdrehen und das Gesetz brechen darf – und damit durchkommt.«
Sie blieb stehen, eine Hand vor der Geschworenen mit dem roten Haar erhoben. »Wenn Sie einmal all die besonderen Umstände außer acht lassen, auf die Mr. MacPhee sich in diesem Gerichtssaal berufen hat, dann werden Sie feststellen, daß immer noch klare, unwiderlegbare Beweise bleiben. Am 19. September 1995 hat Mr. MacDonald nach einer Phase der Planung und Überlegung das Gesetz in eigene Hände genommen und seine Frau ermordet.«
Audra machte eine Pause, um mehr Wirkung zu erzeugen. Ein Geschworener rechts von ihr hustete hinter vorgehaltener Hand. Graham sah, wie die Jury auf Audra, oder jeweils vor sich hin oder auf Jamie starrte. Er konnte nicht einmal mehr vermuten, was diese Leute über Audra oder ihn selbst dachten. »Bestimmt hat jeder hier im Gerichtssaal schon einmal miterlebt, wie ein ihm nahestehender Mensch leiden mußte. Vielleicht nicht so lange wie Maggie MacDonald; vielleicht auch länger. Bestimmt stand jeder von Ihnen in dieser Situation unter Druck. Aber keiner von Ihnen hat deshalb das Gesetz gebrochen.
Ich hoffe, daß Sie das im Kopf behalten, wenn Sie sich die Fakten ansehen. Die Fakten, nicht die Emotionen, die Trauer oder das Grauen. Denn obwohl all diese Dinge ihren Platz haben, dürfen wir sie nicht mit den Beweisen vermengen, und die Beweise können nur zu einer Verurteilung führen.«
Sie
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