In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
begegnete sie einem alten Freund. »Habe ich Ihren Namen nicht schon mal gelesen? Im Time-Magazin? Im Zusammenhang mit der Verhandlung gegen diesen Sterbehelfer Kevorkian?«
Harding plusterte sich sichtbar auf, seine Schultern wuchsen zehn Zentimeter in die Höhe, und seine Brust weitete sich hochgemut. »Ganz recht«, bestätigte er. »Im November 1995.«
Audra nickte, als sei sie sichtlich beeindruckt. »Ist es richtig, Dr. Harding, daß Sie schon in zahlreichen Verhandlungen ausgesagt haben und dabei für das Recht auf den eigenen Tod eingetreten sind?«
»Ja«, antwortete Harding stolz. »Allerdings!«
»Und ist es nicht möglich, daß Sie durch Ihre Interpretation des Verständnisses, das der Angeklagte von Recht und Unrecht hatte, im Grunde seine Tat persönlich rechtfertigen?«
Graham beobachtete, wie der Wind aus Hardings Segeln wich. »Nein, natürlich nicht«, haspelte er.
»Keine weiteren Fragen.«
Audra setzte sich und warf Graham einen triumphierenden Blick zu. »Die Verteidigung beantragt eine Pause«, sagte er und hakte Jamie unter.
Cam brachte Allie eine Tasse Kaffee. Sie unterhielt sich mit seiner Mutter und hatte ihm den Rücken zugewandt, deshalb konnte sie ihn unmöglich kommen sehen; als er seine Hand auf ihren Arm legte, erstarrte sie daher.
Ellen sah zu ihrem Sohn auf, beendete ihren Satz und meinte, sie müsse auf die Toilette.
»Ich habe dich heute morgen vermißt«, sagte Cam. Er kam sich lächerlich vor und war nervös. Seine Hände zitterten. Allie nickte. Sie nahm einen Schluck Kaffee und vermerkte insgeheim, daß Cam Zucker hineingetan hatte; dabei nahm sie nie Zucker.
»So«, sagte er und schaute zur Tür des Gerichtssaals. »Jetzt ist es fast vorbei.«
»Vielleicht zieht es sich noch etwas hin. Graham sagt, daß die Anklage einen Gegengutachter aussagen lassen will. Ihren eigenen Psychologen.«
Cam nickte. Jamie tat ihm leid, doch er wollte jetzt nicht über ihn sprechen. Er senkte die Stimme. »Und, bedauerst du irgendwas?« fragte er.
Allie sah ihn an. Ihre eichenfarbenen Augen waren weit offen und klar. »Ich liebe dich, Cam«, erklärte sie ohne Umschweife, »aber ich kann dich immer noch nicht wieder besonders leiden.«
Die Anklage rief Roanoke Martin in den Zeugenstand.
Graham sah ihn die Stufen hinaufklettern und seine Hand auf die Bibel legen. Sein gesenkter Kopf und der schlaffe Gang ließen keinen Zweifel daran, daß es ihm gar nicht gefiel, hier zu sein.
Audra befragte den Psychologen nach seiner beruflichen Laufbahn. Dann baute sie sich breitbeinig vor ihm auf und nahm Graham dadurch die Sicht. »Wann haben Sie den Angeklagten untersucht?«
»Am neunzehnten Dezember vergangenen Jahres.«
»Können Sie uns das Ergebnis Ihrer Untersuchung mitteilen?«
»Der Angeklagte konnte eindeutig Recht von Unrecht unterscheiden und zeigte keinerlei Anzeichen von Verlust seines Realitätssinns.«
Die Staatsanwältin nickte knapp. »Dr. Martin, war sich Ihrer fachlichen Meinung nach der Angeklagte in der Tatnacht darüber im klaren, daß es zu einem Sauerstoffmangel führen würde, wenn er ein Kissen auf das Gesicht eines anderen Menschen drückt?«
»Ja.«
»War er sich darüber im klaren, daß dieser Sauerstoffmangel zum Tode führen könnte?«
»Ja.«
Audra blickte auf die Geschworenen. »Haben Sie aufgrund Ihrer Unterhaltung mit dem Angeklagten den Eindruck, daß er in der Mordnacht nicht Herr seiner Sinne war?«
»Nein«, antwortete Martin fest. »Das habe ich nicht.«
»Ihr Zeuge.« Audra marschierte zurück zum Tisch der Anklage und fing an, Ordner und Akten zuzuklappen, als wäre der Fall damit erledigt.
Graham erhob sich langsam. »Können Sie sich erinnern, um wieviel Uhr Jamie in Ihre Praxis kam?«
Martin zog die Stirn in Falten und stellte ein Höchstmaß an Konzentration zur Schau. »Ich bin mir nicht sicher. Aber ich kann nachschauen.«
»Bitte.«
Graham ging langsam auf und ab, während Dr. Martin in einem schwarzen, ledergebundenen Notizbuch herumblätterte, das er aus seiner Brusttasche gezogen hatte. »Um zwölf Uhr fünf«, sagte er.
»Können Sie mir, ohne in Ihren Unterlagen nachzusehen, sagen, wie lange die Sitzung gedauert hat?«
Der Psychologe blinzelte Graham eulenhaft an. »Genau kann ich mich nicht entsinnen.«
»Würde es Ihnen helfen, wenn Sie Ihre Unterlagen nochmal zu Rate ziehen?«
Martin überflog ein paar Seiten. »Die Sitzung endete um zwölf Uhr dreiundzwanzig.«
»Sie haben sich also achtzehn Minuten mit Jamie
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