In einer Winternacht
West Side betrieben. Inzwischen arbeitete sie von ihrer Wohnung aus oder besuchte ihre treuen Kundinnen zu Hause. Ihre Schneiderarbeiten und Änderungen waren äußerst preiswert.
Allerdings witzelten ihre Kunden, daß Lilly von ihnen als Gegenleistung für die niedrigen Preise ein offenes Ohr für ihre unablässigen Klagen über ihren mißratenen Neffen Lenny erwartete.
Dann lag Lilly, einen Haufen Stecknadeln neben sich, auf den Knien, maß sorgfältig die Säume ab, markierte sie mit Schneiderkreide und gab eine endlose Litanei von Beschwerden von sich. »Mein Neffe, er treibt mich noch in den Wahnsinn. Vom Tag seiner Geburt an hat er nichts als Ärger gemacht. Seine Schulzeit: Fragen Sie mich lieber nicht. Festnahmen. Zweimal Besserungsanstalt. Und hat ihn das auf den rechten Weg gebracht? Nein. Verliert immer wieder die Arbeit. Und warum? Meine Schwester, seine Mama, Gott sei ihrer Seele gnädig, hat ihn zu sehr verwöhnt. Natürlich liebe ich ihn – schließlich ist er mein Fleisch und Blut –, aber er raubt mir den letzten Nerv. Es ist nicht auszuhalten mit ihm. Außerdem macht er die Nacht zum Tage. Ich frage mich bloß, wovon er lebt.«
Doch nun hatte Lilly Maldonado ein ernstes Zwiegespräch mit ihrem Lieblingsheiligen, dem heiligen Franz von Assisi, geführt und war zu einer Entscheidung gelangt. Sie war mit ihrem Latein am Ende – Lenny würde niemals auf den Pfad der Tugend finden. Und deshalb wollte sie ein für allemal einen Schlußstrich ziehen.
Das Licht im Flur war dämmrig, und da sie nur ihre vorbereitete Ansprache im Sinn hatte, bemerkte sie den Kinderwagen, der hinter ihrem Neffen stand, zunächst nicht.
Lilly verschränkte die Arme vor der Brust und sagte streng: »Lenny, du hast mich gefragt, ob du ein paar Nächte hier schlafen kannst. Das war vor drei Wochen, und ich will dich hier nicht mehr sehen. Pack deine Sachen und verschwinde.«
Lillys laute Stimme schreckte das bereits wache Baby auf, und das leise Wimmern steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll.
»Was ist das?« rief Lilly aus. Dann entdeckte sie den Kinderwagen, schob ihren Neffen rasch beiseite und blickte hinein. »Was hast du jetzt wieder angestellt?« fragte sie entsetzt. »Woher hast du dieses Kind?«
Lenny überlegte rasch. Er wollte nicht ausziehen. Er fühlte sich in der Wohnung sehr wohl, und außerdem gab es ihm einen seriösen Anstrich, wenn er mit seiner Tante zusammenlebte. Da er den Brief der Kindesmutter gelesen hatte, faßte er einen schnellen Entschluß.
»Es ist meins, Tante Lilly. Ein Mädchen, in das ich mal verliebt war, ist die Mutter. Aber sie zieht nach Kalifornien und möchte das Kind zur Adoption freigeben. Ich bin dagegen. Ich will es behalten.«
Das Gebrüll hatte sich inzwischen in ein forderndes Kreischen verwandelt. Kleine Fäuste fuchtelten.
Lilly öffnete das Bündel, das zu Füßen des Babys lag. »Das Kind hat Hunger«, verkündete sie. »Wenigstens hat deine Freundin Babynahrung dagelassen.« Sie nahm eine der Flaschen und drückte sie Lenny in die Hand. »Los, aufwärmen.«
Ihre Miene veränderte sich, als sie das winzige Kind aus den Decken wickelte und es tröstend in den Armen wiegte. »Beautiful, bella. Wie kann es sein, daß deine Mama dich nicht haben will?« Sie sah Lenny an. »Wie heißt sie?«
Lenny dachte an den sternförmigen Diamanten am Kelch. »Sie heißt Star, Tante Lilly.«
»Star«, murmelte Lilly Maldonado und fuhr dann fort, das schluchzende Kind zu beruhigen. »In Italien würden wir sie Stellina nennen. Das heißt kleiner Stern.«
Nachdenklich beobachtete Lenny die aufkeimende Zuneigung zwischen dem Kind und der alten Frau. Niemand würde das Baby suchen, überlegte er. Schließlich hatte er es nicht entführt, und falls es doch Schwierigkeiten geben sollte, hatte er ja noch den Brief, der bewies, daß es ausgesetzt worden war. Er wußte, daß Großmutter auf Italienisch nonna hieß. »Star, meine Kleine, ich habe jetzt ein Zuhause, und du hast eine nonna « , sagte sich Lenny zufrieden, als er in die Küche ging, um das Fläschchen aufzuwärmen.
2
SIEBEN JAHRE SPÄTER
W
illy Meehan saß an dem Klavier, das ihm seine Frau
Alvirah zum zweiundsechzigsten Geburtstag geschenkt hatte, und versuchte stirnrunzelnd, die Noten in John Thompsons »Klavierschule für Senioren« zu entziffern. Vielleicht ist es einfacher, wenn ich mitsinge, überlegte er und fing an: »Schlaf in himmlischer Ruh…«
Willy hat eine schöne Stimme, dachte Alvirah, als sie ins
Weitere Kostenlose Bücher