In einer Winternacht
Zimmer kam. »Stille Nacht« ist eines meiner LieblingsWeihnachtslieder. Liebevoll betrachtete sie den Mann, mit dem sie seit über vierzig Jahren verheiratet war. Im Profil sah er dem verstorbenen Tip O’Neill, Sprecher des Repräsentantenhauses, noch viel ähnlicher als von vorne. Mit seinem weißen Haarschopf, dem wettergegerbten Gesicht, den leuchtenden blauen Augen und dem einnehmenden Lächeln erntete Willy häufig erstaunte Blicke des vermeintlichen Wiedererkennens, obwohl O’Neill schon vor einigen Jahren verstorben war.
Als Alvirah ihn nun zärtlich musterte, kam sie zu dem Schluß, daß er in seinem dunkelblauen Anzug einfach großartig aussah. Er trug ihn zu Ehren von Bessie Durkin Maher, deren Totenfeier heute stattfand. Alvirah hatte widerwillig das marineblaue Kostüm Größe vierzig, das sie eigentlich hatte anziehen wollen, mit einem schwarzen Kleid vertauscht, das eine Nummer größer war. Am Vorabend war sie mit Willy von der Karibikkreuzfahrt zurückgekehrt, zu der sie Ende November aufgebrochen waren. Das reichhaltige Essen an Bord war Gift für ihre Figur gewesen.
»Nur der Engel Hallelujah«, sang Willy und spielte leise mit.
Der liebe Gott hat uns ganz sicher einen Schutzengel geschickt, dachte Alvirah. Weil sie Willy nicht stören wollte, schlich sie auf Zehenspitzen zum Fenster und genoß die atemberaubende Aussicht auf den Central Park.
Vor nur zwei Jahren hatten Alvirah, damals Putzfrau, und Willy, ein ehemaliger Klempner, in Jackson Heights, einem Stadtteil von Queens gewohnt, und zwar noch in derselben Wohnung, in die sie als jungverheiratetes Paar eingezogen waren. Nach einem schweren Arbeitstag bei Mrs. O’Keefe, die sich betrogen fühlte, wenn Alvirah beim Staubsaugen nicht jedes einzelne Möbelstück im Haus verrückte, war sie todmüde gewesen. Dennoch hatten Willy und sie sich wie jeden Mittwoch und Samstag im Fernsehen die Ziehung der Lottozahlen angesehen und fast beide einen Herzanfall bekommen, als ihre Zahlen – die, die sie immer tippten – gezogen wurden.
Und dann wurde uns klar, daß wir vierzig Millionen Dollar gewonnen haben, dachte Alvirah, die ihr Glück noch immer kaum fassen konnte.
Das war nicht nur Glück, sondern Gottes Wille, verbesserte sie sich, während sie die Aussicht auf sich wirken ließ. Es war viertel vor sieben, der frische Schnee im Central Park lag wie eine schimmernde weiße Decke auf Bäumen und Wiesen. In der Ferne glitzerte die Weihnachtsbeleuchtung rund um das Restaurant Tavern on the Green. Die Scheinwerfer der Privatwagen und Taxis bildeten einen Fluß aus Licht, der sich durch die gewundenen Straßen schlängelte. Überall sonst auf der Welt wäre es einfach nur Autoverkehr, überlegte sie. Die Pferdekutschen im Park, die sicher noch herumfuhren, obwohl sie sie wegen der Dunkelheit nicht erkennen konnte, erinnerten sie immer an die Geschichten, die ihre Mutter ihr über ihre Kindheit am Central Park erzählt hatte. Das war kurz nach der Jahrhundertwende gewesen. Und beim Anblick der Eisläufer, die auf der Wollman-Bahn ihre Kreise zogen, fielen ihr die Abende vor vielen Jahren ein, als sie in St. Raymond’s in der Bronx Rollschuh gelaufen war.
Nach dem Lottogewinn, der ein Jahreseinkommen von zwei Millionen Dollar abzüglich Steuern bedeutete, waren sie und Willy in diese Luxuswohnung gezogen. In der Nähe des Central Parks zu leben, war schon immer ihr Wunschtraum gewesen, und außerdem stellte die Wohnung eine gute Geldanlage dar. Dennoch hatten sie ihre alte Mietwohnung in Jackson Heights behalten. Es konnte ja durchaus sein, daß der Staat New York pleite ging und der Geldstrom versiegte.
Es war nicht zu leugnen, daß Alvirah ihren neuen Reichtum gut nutzte. Sie spendete erhebliche Summen für wohltätige Zwecke und machte sich ansonsten ein schönes Leben. Außerdem war sie in den Kurort Cypress Point bei Pebble Beach gereist und wegen ihrer Neugier dort fast ermordet worden – eine Erfahrung, die ihr wohl ewig im Gedächtnis bleiben würde. Dieses Erlebnis machte sich bezahlt, als sie Kolumnistin beim New York Globe wurde. Und da eines meistens zum anderen führt, hatte sie mit Hilfe ihres kleinen Aufnahmegeräts, das als Brosche in Form eines Sonnenaufgangs getarnt war, schon manches Verbrechen aufgeklärt. So hatte sie sich – obwohl sie natürlich Amateurin blieb – im Laufe der Zeit einen Ruf als Meisterdetektivin erworben.
Willys Fähigkeiten als Klempner wurden inzwischen nur noch von seiner ältesten Schwester
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