In einer Winternacht
ihr der Truthahn geschmeckt hat? Sie hat ihren ganzen Teller leergegessen.«
»Und alles, was sie sonst noch in die Finger kriegen konnte«, spöttelte Willy. »Da sind wir ja schon.«
Als das Taxi am Straßenrand stoppte, hielt ihnen ein Angestellter des Beerdigungsinstituts Reading die Tür auf und teilte ihnen mit gedämpfter Stimme mit, daß die sterbliche Hülle von Bessie Durkin Maher im Ostsalon aufgebahrt sei. Schwerer, süßlicher Blumenduft hing in der Luft, und es herrschte Grabesstille, als sie feierlich den Korridor entlangschritten.
»In solchen Läden kriege ich Gänsehaut«, flüsterte Willy. »Es riecht immer nach verwelkten Nelken.«
Im Ostsalon befand sich bereits eine Reihe von Trauergästen, zu denen auch Vic und Linda Baker gehörten, die Mieter, die das obere Stockwerk von Bessies Haus bewohnten. Sie standen am Kopfende des Sarges neben Bessies Schwester Kate und nahmen die Beileidswünsche entgegen, als wären sie Familienmitglieder.
»Was soll denn das?« zischte Willy Alvirah zu, während sie auf eine Gelegenheit warteten, mit Kate zu sprechen.
Kate, dreizehn Jahre jünger als ihre gestrenge Schwester, war eine drahtige Fünfundsiebzigjährige mit einem kurzen, grauen Pagenkopf und freundlichen blauen Augen, in denen jetzt die Tränen standen.
Ihr ganzes Leben lang ist sie von Bessie unterdrückt worden, dachte Alvirah, als sie Kate in die Arme schloß. »Es war besser so, Kate«, sagte sie mit Nachdruck. »Wenn Bessie den Schlaganfall überlebt hätte, wäre sie vollständig gelähmt gewesen, und das hätte sie nicht ertragen.«
»Sicher nicht«, stimmte Kate zu und wischte sich die Tränen weg. »Das hätte sie nicht gewollt. Wahrscheinlich habe ich Bessie gleichzeitig als Schwester und als Mutter betrachtet. Auch wenn sie ziemlich starrköpfig sein konnte, hatte sie doch ein gutes Herz.«
»Wir werden sie schrecklich vermissen«, meinte Alvirah. Willy, der hinter ihr stand, seufzte tief auf.
Während Willy Kate brüderlich umarmte, wandte Alvirah sich an Vic Baker. Sein Traueranzug wirkte so steif, daß er Alvirah an ein Mitglied der Addams-Family erinnerte. Baker war ein gedrungener Mann Mitte dreißig, mit einem jungenhaften Gesicht, dunkelbraunem Haar und verschlagenen, porzellanblauen Augen. Er trug einen schwarzen Anzug und eine schwarze Krawatte. Seine Frau Linda stand neben ihm, ebenfalls in Schwarz gekleidet und mit einem Taschentuch vor dem Gesicht.
Eindeutig Krokodilstränen, dachte Alvirah spöttisch. Sie hatte Vic und Linda beim Erntedankfest kennengelernt. Da Kate wußte, wie schlecht es um die Gesundheit ihrer Schwester stand, hatte sie Alvirah, Willy, Schwester Cordelia, Schwester Maeve Marie und Monsignore Thomas Ferris, den Pfarrer von St. Clement, dessen Pfarrhaus nur ein paar Türen weiter in der 103. Straße lag, zum Festessen eingeladen.
Vic und Linda hatten hereingeschaut, als es gerade Kaffee gab, und Alvirah hatte den Eindruck gewonnen, daß Kate die beiden absichtlich nicht gebeten hatte, zum Nachtisch zu bleiben. Warum benahmen sie sich jetzt, als wären sie die zutiefst betroffenen Angehörigen? fragte sie sich. Lindas Trauermiene war doch ganz offensichtlich nur gespielt.
Viele Leute würden sie für gutaussehend halten, überlegte Alvirah weiter, während sie Lindas ebenmäßiges Gesicht betrachtete. Aber ich glaube, mit ihr ist nicht gut Kirschen essen. Sie hat etwas Kaltes in den Augen, und ich traue ihr nicht über den Weg. Und diese stachelige Frisur mit den aufdringlichen blonden Strähnchen sieht einfach verboten aus.
»… als wäre sie meine eigene Mutter gewesen«, sagte Linda mit zitternder Stimme.
Willy hatte diese Bemerkung natürlich gehört und konnte es sich nicht verkneifen, etwas hinzuzufügen. »Sie sind doch erst vor einem knappen Jahr eingezogen«, meinte er.
Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er Alvirah am Arm und zog sie zur Kniebank.
Noch im Tode wirkte Bessie Durkin, als hätte sie alles bestens im Griff. Sie trug ihr bestes geblümtes Kleid und um ihren Hals lag eine enge Kette aus falschen Perlen, die der Richter ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Ihr Haar war frisch frisiert. Bessies Gesicht hatte den zufriedenen Ausdruck eines Menschen, dem es sein Leben lang gelungen war, andere nach seiner Pfeife tanzen zu lassen.
Als Alvirah und Willy sich später von Kate verabschiedeten, versprachen sie ihr, zum Trauergottesdienst nach St. Clement zu kommen und mit ihr im Auto zum Friedhof zu fahren. »Schwester Cordelia ist auch eingeladen«,
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