In einer Winternacht
Reihen dicht geparkter Autos auf beiden Straßenseiten schützten Sondra vor neugierigen Blicken, als sie über die Straße zum Pfarrhaus lief. Sie rannte die drei Stufen der niedrigen Vortreppe hinauf und klappte den Kinderwagen auseinander. Nachdem sie die Bremse festgestellt hatte, bettete sie das Baby unter den ausgefalteten Regenschutz und legte ihm das Bündel aus Kleidern und Flaschen zu Füßen. Kurz kniete sie nieder, um ihr Kind ein letztesmal anzusehen. »Lebwohl«, flüsterte sie. Dann stand sie auf und stürmte die Stufen hinab in Richtung Columbus Avenue.
Sie würde das Pfarrhaus von einer Telefonzelle zwei Straßen weiter anrufen.
Lenny war stolz darauf, daß ein Einbruch in einer Kirche bei ihm nie länger als drei Minuten dauerte. Allerdings muß man jederzeit mit einem stillen Alarm rechnen, dachte er, während er seinen Rucksack öffnete und eine Taschenlampe herausholte. Den dünnen Lichtstrahl auf den Boden gerichtet, machte er sich an seinen üblichen Rundgang. Zuerst schlich er zum Opferstock. Ihm war aufgefallen, daß die Spenden in letzter Zeit nachgelassen hatten. Doch diesmal war das Resultat besser als gewöhnlich: zwischen dreißig und vierzig Dollar.
Die Sammelbüchsen vor den Votivkerzen erwiesen sich als besser gefüllt als in den letzten zehn Kirchen. Es waren insgesamt sieben, in regelmäßigen Abständen vor den Heiligenstatuen aufgestellt.
Rasch knackte er die Schlösser und nahm das Geld an sich.
Im letzten Monat hatte er einige Male die Messe besucht, um sich mit den Räumlichkeiten vertraut zu machen. Da er festgestellt hatte, daß der Priester bei der Wandlung einen schlichten Kelch benutzte, sparte er sich die Mühe, das Tabernakel aufzubrechen, denn er erwartete nicht, etwas Lohnendes darin zu finden. Außerdem tat er so etwas ohnehin nur sehr ungern. Die Jahre in einer Klosterschule hatten, wie er zugeben mußte, ihre Wirkung auf ihn nicht völlig verfehlt, so daß ihn manchmal ein schlechtes Gewissen peinigte – eindeutig ein Nachteil, wenn man seinen Lebensunterhalt als Kirchenräuber bestreiten wollte.
Andererseits hatte er keine Skrupel, den Gegenstand zu entwenden, der ihn eigentlich hierhergeführt hatte: den Silberkelch mit dem sternförmigen Diamanten im Sockel. Er stammte aus dem Besitz von Joseph Santori, dem Priester, der die Gemeinde St. Clement vor hundert Jahren gegründet hatte, und war das einzig Wertvolle in dieser Kirche.
Über einem Mahagonischrein in einer Nische rechts vom Altarraum hing ein Gemälde, das Santori darstellte. Der Schrein war kunstvoll verziert, das Gitter diente dazu, den Kelch gleichzeitig vor Dieben zu schützen und zur Schau zu stellen. Nach einer der Messen, die Lenny besucht hatte, war er hinübergeschlendert, um die Inschrift unter dem Schrein zu lesen:
Anläßlich seiner Ordination in Rom erhielt Vater, später Bischof, Santori diesen Kelch von der Gräfin Maria Tomicelli zum Geschenk. Der Kelch hatte sich seit den Anfangstagen des Christentums im Besitz der Familie befunden. Im Alter von fünfundvierzig Jahren wurde Joseph Santori zum Bischof geweiht und dem Bistum Rochester zugeteilt. Bei seiner Pensionierung im Alter von fünfundsiebzig Jahren kehrte er nach St. Clement zurück, wo er seinen Lebensabend den Alten und Kranken widmete. Bischof Joseph Santori war für seine Frömmigkeit so berühmt, daß nach seinem Tode eine Petition an den Heiligen Stuhl gerichtet wurde, in der man um seine Seligsprechung bat. Die Entscheidung steht bis heute aus.
Der Diamant wird sicher ein paar Dollar einbringen, dachte Lenny, während er mit dem Beil ausholte. Mit zwei harten Schlägen zerschmetterte er die Scharniere des Schreins, riß die Türen auf und packte den Kelch. Aus Angst, vielleicht einen stillen Alarm ausgelöst zu haben, rannte er zur Seitentür der Kirche, stieß sie auf und ergriff die Flucht.
Als er nach Westen in Richtung Columbus Avenue lief, trocknete der kalte Wind rasch die Schweißperlen, die seine Stirn und seinen Rücken bedeckten. Eigentlich hatte er vor, sich auf der Straße unter die Passanten zu mischen und unbemerkt zu verschwinden, doch als er am Pfarrhaus vorbeikam, ertönte plötzlich das durchdringende Heulen von Polizeisirenen.
Er sah zwei Paare die Straße entlangschlendern, aber aus Angst, sich zu verraten, wagte er nicht, schneller zu laufen, um sie einzuholen. Da entdeckte er plötzlich den Kinderwagen auf den Stufen des Pfarrhauses, stürzte hinauf und schnappte ihn sich. Scheinbar befand
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