In Liebe, Rachel
Versand der Briefe, die Miss Braun nach ihrem Tod verschickt haben wollte, gekümmert hat.«
»Ja, das war ich.«
»Oh.« Jo hatte geglaubt, dass eine Sekretärin das erledigt hatte und nicht der Fünfhundert-Dollar-die-Stunde-Anwalt selbst. »Nun, vielleicht können Sie mir helfen. Ich habe den Verdacht, dass es da nach Miss Brauns Tod zu einer Verwechslung gekommen ist.«
»Eine Verwechslung?«
Jo trat im Geiste einen Schritt zurück. »Sie ist so schnell gestorben.«
Der Anwalt sagte: »Ich kann Ihnen versichern, dass mit ihren Papieren alles in Ordnung war. Für eine so junge Frau ist das schon ungewöhnlich, aber es war alles, wie es sein sollte.«
»Ich habe einen dieser Briefe erhalten«, sagte Jo und zog ihn aus der Hosentasche. »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie …« Jo spürte plötzlich einen Kloß in der Kehle. »Ich glaube, dass sie ihn eigentlich an eine der anderen beiden betroffenen Personen geschrieben hat.«
»Zwei Personen?«
»Kate Jansen vielleicht. Oder Sarah Pollard.«
»Miss Braun hat nicht nur drei Briefe verschicken lassen, sondern Dutzende.«
Dutzende!
Jo starrte auf die riesige Uhr über den Türen des Diners, deren Zeiger auf der Neun stehengeblieben waren. Man sollte doch meinen, dass eine so große Uhr funktionierte, wenn sie schon am Eingang zu einem Diner in New Jersey hing. Stillstand auf neun Uhr schrie geradezu heraus, dass kein Geld für die Reparatur da war.
Man sollte auch meinen, dass einem bewusst wäre, dass die Frau, die man zwanzig Jahre gekannt hatte, auch andere Freunde hatte. Dutzende vielleicht sogar. Besonders eine Frau wie Rachel, die bei jedem Abenteuer ihr Leben riskiert hatte und tiefe Verbindungen mit den anderen Adrenalinjunkies eingegangen war. Hatte sie nicht Menschen gesammelt wie ein Kind Murmeln?
Beim Training für dieses Rennen habe ich einen tollen Typen kennengelernt. Er ist eins einundsechzig, Triathlet und praktizierender Buddhist … Ich habe einen unglaublichen Mann kennengelernt, Jo. Er ist wie aus Kalkstein gehauen, Surflehrer und lebt in einem Bungalow auf Maui … Sie ist die erste Frau, die die Big Seven in Angriff nehmen will, aber sie hängt nicht im Ghetto der Motivationstrainer fest. Nein, sie will eine Adventure-Reiseagentur gründen, und ich denke darüber nach, bei ihr einzusteigen …
Die Tatsache, dass Rachel Dutzende Briefe verschickt hatte, bedeutete noch etwas anderes, Alarmierendes. Nämlich dass Rachel eine ganze Weile darüber nachgedacht, alles von langer Hand geplant hatte. Das machte ihre Bitte noch viel verwirrender.
»Wir waren sehr sorgfältig beim Sortieren, Miss Marcum«, sprach der Anwalt in die Stille. »Miss Braun hat, wie Sie sehen werden, alle Briefe selbst adressiert.«
Tatsächlich, es war Rachels Handschrift auf dem Umschlag, überraschend mädchenhaft mit einem Linksdrall: »Bobbie Jo Marcum, Mogul Extraordinaire, 196 East 82nd Street #5D, New York, New York 10028.« So vertraulich und persönlich wie der Brief selbst. Eine Tatsache, die Jo nicht länger leugnen konnte.
Sie ergab nur nicht den geringsten Sinn.
»Miss Marcum?«
»Ja, ich bin noch dran.«
»Können wir Ihnen noch anderweitig behilflich sein?«
Können Sie mir helfen, eine tote Frau zu erwürgen?
»Nein danke, Sie waren sehr freundlich. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit, Mr Leibowitz.«
Jo unterbrach die Verbindung und sagte sich, dass es keine Rolle spielte. Es würde sowieso nicht geschehen. Auf keinen Fall würden Rachels Eltern erlauben, dass sie sich derart in Familienangelegenheiten einmischte. Kate Jansen musste Fallschirm springen, okay, aber das hatte nur zwei Stunden Training und etwa zehn Minuten Todesangst erfordert. Dann war es vorbei gewesen. Was Rachel von Jo verlangte, würde ein Leben lang dauern.
Sie legte den Gang ein und fuhr Richtung Teaneck. Das alles würde sich binnen einer Stunde geklärt haben. Sie würde Rachels Eltern den Brief zeigen, sie wären gewiss überrascht und entsetzt, und dann würden alle herzlich darüber lachen. Sie würden darüber lachen, wie Rachel immer versuchte, das Leben der Menschen um sie herum zu beeinflussen – sie zum Besseren zu wenden, natürlich –, selbst aus dem Grab heraus. Und dann wäre Jo freigesprochen.
Bei Jos Ankunft waren die Vorhänge des gepflegten Hauses im Kolonialstil geschlossen, als ob die Familie immer noch Schiwa sitzen würde. Als Jo sich der Tür näherte, zog sie am Saum ihres engen türkisfarbenen Shirts und fragte sich, ob sie nicht
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