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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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Feuer machte, dass ich über die Unbequemlichkeit des Ein- und Ausstiegs gar nicht nachdachte. Außerdem muss ich hinzufügen, dass Flucht kein Konzept war, mit dem ich wirklich Erfahrung hatte. Das Schlimmste, dem ich bisher hatte entfliehen müssen, war Artie gewesen, ein seltsam aussehender Junge in der Schule, dessen Vater Leichenbestatter war. Er tat gern so, als hätte er eine Spritze mit Einbalsamierungsflüssigkeit bei sich. Auf seine Hefte zeichnete er Spritzen, aus denen dunkle Kleckse tropften.
    »Das ist klasse!«, sagte ich zu Mr. Harvey. Er hätte der Glöckner von Notre Dame sein können, über den wir im Französischunterricht etwas gelesen hatten. Mir war es egal. Ich machte eine totale Kehrtwende. Ich war mein Bruder Buckley bei unserem Tagesausflug ins Naturkunde-Museum in New York, wo er sich in die dort ausgestellten riesigen Skelette verliebt hatte. Das Wort
Klasse
hatte ich seit der Grundschule nicht mehr in der Öffentlichkeit benutzt.
    »Als ob man einem Baby seinen Lutscher wegnimmt«, sagte Franny.
    Ich sehe das Erdloch vor mir, als wäre es gestern gewesen, und das ist es auch. Für uns ist das Leben ein ständiges Gestern. Das Loch war so groß wie ein kleines Zimmer, die Abstellkammer in unserem Haus zum Beispiel, wo wir unsere Stiefel und Regenmäntel aufbewahrten und Mom noch eine Waschmaschine mit Trockner hineingequetscht hatte, übereinander. Ich konnte fast aufrecht darin stehen, Mr. Harvey dagegen musste sich bücken. Durch die Art und Weise, wie er gegraben hatte, war an den Längsseiten eine Bank entstanden. Er setzte sich unverzüglich hin.
    »Sieh dich um«, sagte er.
    Ich starrte es voller Erstaunen an, das Bord über ihm, wo er Streichhölzer, eine Reihe Batterien und eine batteriegetriebene Leuchtstofflampe deponiert hatte, die das einzige Licht im Raum ausstrahlte - ein unheimliches Licht, das seine Gesichtszüge verschwimmen ließ, als er auf mir war.
    Auf dem Bord lagen auch ein Spiegel und ein Rasierer und Rasierkrem. Das fand ich komisch. Erledigte er das nicht zu Hause? Aber ich nahm wohl an, dass ein Mann, der ein vollkommen intaktes Einfamilienhaus hat und dann nur eine halbe Meile entfernt davon einen unterirdischen Raum baut, ein bisschen verrückt sein muss. Mein Vater hatte eine nette Art, Menschen wie ihn zu beschreiben: »Der Mann ist ein Original, weiter nichts.«
    Also dachte ich wohl, Mr. Harvey sei ein Original, und der Raum gefiel mir, und er war warm, und ich wollte wissen, wie er ihn gebaut hatte, wie das Ganze funktionierte, und wo er all das gelernt hatte.
    Aber bis der Hund der Gilberts drei Tage später meinen Ellbogen fand und mit einer verräterischen Maishülse daran nach Hause brachte, hatte Mr. Harvey das Loch verschlossen. Ich war währenddessen im Transit. Deshalb kriegte ich nicht mit, wie er sich abschuftete, die hölzerne Verstärkung entfernte, sämtliche Beweisstücke zusammen mit meinen Körperteilen einsackte, bis auf jenen Ellbogen. Als ich dann endlich das Nötigste bereithatte, um wieder aufzutauchen und mir das Treiben auf der Erde anzuschauen, war ich mehr an meiner Familie als an irgendetwas anderem interessiert.
    Meine Mutter saß mit offenem Mund auf einem Stuhl an der Haustür. Ihr blasses Gesicht blasser, als ich es je gesehen hatte. Ihre blauen Augen starr. Meinen Vater drängte es zur Betriebsamkeit. Er wollte Einzelheiten in Erfahrung bringen und gemeinsam mit den Polizisten das Maisfeld durchkämmen. Ich danke Gott heute noch für einen kleinen Kriminalbeamten namens Len Fenerman. Er wies zwei Uniformierte an, meinen Dad in die Stadt zu begleiten und ihn alle Örtlichkeiten aufzeigen zu lassen, wo ich mich mit meinen Freundinnen rumgetrieben hatte. Die Beamten hielten meinen Dad den ganzen ersten Tag lang in einem einzigen Einkaufszentrum auf Trab. Niemand hatte Lindsey etwas erzählt, die dreizehn war und alt genug gewesen wäre, oder Buckley, der vier war und, um ehrlich zu sein, nie vollständig durchblicken würde.
    Mr. Harvey fragte mich, ob ich eine kleine Erfrischung wolle. So formulierte er es. Ich sagte, ich müsse nach Hause.
    »Sei höflich und nimm eine Cola«, sagte er. »Die anderen Kinder würden bestimmt eine trinken.«
    »Welche anderen Kinder?«
    »Ich habe das hier für die Kinder aus der Nachbarschaft gebaut. Ich dachte, es könnte vielleicht so eine Art Clubhaus sein.«
    Ich glaube nicht, dass ich ihm das abnahm, auch damals nicht. Ich war der Meinung, dass er log, doch ich fand, es war eine

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