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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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jämmerliche Lüge. Ich dachte mir, er sei wohl einsam. Wir hatten in Sexualkunde über Männer wie ihn gelesen. Männer, die nie heirateten und jeden Abend Tiefkühlgerichte aßen und solche Angst vor Ablehnung hatten, dass sie nicht einmal Haustiere besaßen. Er tat mir Leid.
    »Okay«, willigte ich ein. »Ich nehme eine Cola.«
    Nach einer Weile fragte er: »Ist dir nicht warm, Susie? Warum ziehst du nicht deinen Parka aus?«
    Ich tat es.
    Dann sagte er: »Du bist sehr hübsch, Susie.«
    »Danke«, erwiderte ich, obwohl er mich so anguckte, dass mir, wie meine Freundin Clarissa und ich es nannten, ganz blümerant zu Mute wurde.
    »Hast du einen Freund?«
    »Nein, Mr. Harvey«, sagte ich. Ich schluckte den Rest meiner Cola herunter, eine ganze Menge, und sagte: »Ich muss gehen, Mr. Harvey. Es ist toll hier, aber ich muss gehen.«
    Er stand auf und zog vor den sechs ausgegrabenen Stufen, die in die Welt führten, seine Glöckner-von-Notre-Dame-Nummer ab. »Ich weiß nicht, warum du glaubst, dass du gehen könntest.«
    Ich redete, damit ich mir nicht klarmachen musste, dass Mr. Harvey kein Original war. Jetzt, da er den Eingang versperrte, war er mir unheimlich und ekelte mich an.
    »Mr. Harvey, ich muss wirklich nach Hause.«
    »Zieh deine Sachen aus.«
    »Was?«
    »Zieh deine Sachen aus«, sagte Mr. Harvey. »Ich will überprüfen, ob du noch Jungfrau bist.«
    »Das bin ich, Mr. Harvey.«
    »Ich will sichergehen. Deine Eltern werden mir dankbar sein.«
    »Meine Eltern?«
    »Sie wollen nur brave Mädchen«, sagte er.
    »Mr. Harvey«, sagte ich, »bitte lassen Sie mich gehen.«
    »Du gehst nicht, Susie. Du gehörst jetzt mir.«
    Fitness war damals keine große Sache,
Aerobic
den wenigsten ein Begriff. Mädchen sollten weich und sanft sein, und nur die Mädchen, die wir im Verdacht hatten, lesbisch zu sein, konnten in der Schule die Seile hochklettern.
    Ich wehrte mich heftig. Ich wehrte mich, so gut ich konnte, dagegen, dass Mr. Harvey mir wehtat, doch mein So-gut-ich-konnte war nicht gut genug, nicht annähernd, und so lag ich bald auf dem Boden, im Boden, und er auf mir, keuchend und schwitzend, nachdem er bei dem Gerangel seine Brille verloren hatte.
    Ich war so lebendig damals. Ich dachte, es sei
das Schlimmste auf der Welt
, mit einem Mann auf mir flach auf dem Rücken zu liegen. In der Erde gefangen zu sein, ohne dass jemand wusste, wo ich war.
    Ich dachte an meine Mutter.
    Meine Mutter sah bestimmt auf das Zifferblatt der Uhr an ihrem Backofen. Es war ein neuer Herd, und es gefiel ihr zu gut, dass er eine Uhr hatte. »Ich kann alles auf die Minute genau zubereiten«, sagte sie zu ihrer eigenen Mutter, einer Mutter, der Backöfen vollkommen schnuppe waren.
    Sie würde über meine Verspätung besorgt sein, allerdings eher ärgerlich als besorgt. Während mein Vater in die Garage fuhr, würde sie herumfuhrwerken, ihm einen Drink eingießen, einen trockenen Sherry, und eine wütende Miene aufsetzen. »Du kennst doch die Junior High«, würde sie sagen. »Womöglich ist Frühlingsfest.«»Abigail«, würde mein Vater erwidern, »wie kann Frühlingsfest sein, wenn es schneit?« Nachdem sie damit gescheitert war, scheuchte meine Mutter vielleicht Buckley ins Zimmer und sagte: »Spiel mit deinem Vater«, während sie in die Küche abtauchte und sich selbst einen Schluck Sherry genehmigte.
    Mr. Harvey fing an, seine Lippen auf meine zu pressen. Sie waren schwabbelig und nass, und ich wollte schreien, aber ich war zu verängstigt und zu erschöpft von dem Kampf. Ich war schon mal von jemandem geküsst worden, den ich mochte. Er hieß Ray und war Inder. Er hatte einen Akzent und dunkle Haut. Eigentlich durfte ich ihn nicht mögen. Clarissa nannte seine großen Augen mit den halb geschlossenen Lidern »freakmäßig«, aber er war nett und intelligent und ließ mich bei der Algebra-Prüfung abschreiben, wobei er so tat, als wäre nichts. Er küsste mich an dem Tag, bevor wir unsere Fotos für das Jahrbuch abgaben, an meinem Spind. Als das Jahrbuch Ende des Sommers herauskam, sah ich, dass er das standardisierte »Mein Herz gehört« unter seinem Bild mit »Susie Salmon« ergänzt hatte. Ich nehme an, er hatte Pläne gehabt. Ich erinnere mich, dass seine Lippen aufgesprungen gewesen waren.
    »Nicht, Mr. Harvey«, stieß ich hervor, und das eine Wort sagte ich immer wieder.
Nicht.
Und außerdem sagte ich oft
bitte
. Franny hat mir erzählt, dass fast jeder »bitte« fleht, ehe er stirbt.
    »Ich will dich, Susie«, sagte

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