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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ich mich. Alles geriet durcheinander. Ich fing erneut zu weinen an. Lautlos.

    Ich schob mich vorwärts, bis ich unter meinen Füßen die Kante spürte. Ich kämpfte mich in eine sitzende Position.
    So hoch konnte das doch nicht sein. Er hatte unter mir gestanden und mich hinuntergehoben. Eins zwanzig, vielleicht eins fünfzig, mehr bestimmt nicht. Ich versuchte, meine gefesselten Füße zu bewegen, holte tief Luft und bewegte mich noch ein paar Zentimeter vor, so dass ich auf dem Rand saß. Ich würde bis fünf zählen, dann würde ich springen. Eins, zwei, drei, vier …
    Ich hörte ein Geräusch. Am anderen Ende des Raums.
    Pfeifendes Lachen. Er sah zu. Wie eine Kröte kauerte er in einer Ecke und beobachtete, wie ich jämmerlich auf der Plattform herumzappelte. In meiner Brust stieg ein Schluchzen hoch.
    »Nur zu! Spring!«
    Ich wich ein Stück zurück.
    »Du wirst schon sehen, was passiert, wenn du fällst!«
    Noch ein Stück weiter zurück. Meine Beine befanden sich jetzt wieder auf dem Mauervorsprung. Ich schob mich bis zur Wand zurück, wo ich zusammensank und liegen blieb. Unter der Kapuze liefen mir die Tränen über die Wangen.
    »Manchmal macht es mir Spaß, dich zu beobachten«, erklärte er. »Das merkst du gar nicht, stimmt’s? Du weißt nicht, wann ich hier bin und wann nicht. Ich kann ziemlich leise sein.«
    In der Dunkelheit lauerten also Augen, die mich beobachteten.

    »Wie spät ist es?«
    »Trink dein Wasser.«
    »Bitte. Ist noch Vormittag oder schon Nachmittag?«

    »Das spielt keine Rolle mehr.«
    »Kann ich …?«
    »Was?«
    Was? Ich wusste es nicht. Worum sollte ich bitten? »Ich bin nur ein ganz normaler Mensch«, sagte ich. »Nicht gut, aber auch nicht schlecht.«
    »Jeder erreicht irgendwann den Punkt, an dem er nicht mehr kann«, antwortete er. »Das ist das Entscheidende.«

    Kein Mensch weiß vorher, was er in einer solchen Situation tun würde. Kein Mensch kann das wissen. Ich dachte an den See, den Fluß und den gelben Schmetterling auf dem grünen Blatt. Danach stellte ich mir einen Baum vor, einen Baum mit einem silbrig glänzenden Stamm und hellgrünen Blättern. Eine Weißbirke. Ich platzierte sie auf einem sanft geschwungenen grünen Hügel und ließ einen leichten Wind durch sie hindurchfahren, raschelnd ihre Blätter umdrehen, dass sie glitzerten und leuchteten, als würden zwischen den Ästen Lichter aufblinken. Dann ließ ich eine kleine weiße Wolke genau über dem Baum Halt machen. Hatte ich so einen Baum schon einmal gesehen?
    Ich konnte mich nicht erinnern.

    »Mir ist sehr kalt. Könnte ich eine Decke haben?
    Irgendetwas zum Zudecken.«
    »Bitte.«
    »Was?«
    »Du musst bitte sagen.«
    »Bitte. Bitte geben Sie mir eine Decke.«
    »Nein.«
    Plötzlich war ich wieder von einer rasenden Wut erfüllt.

    Mein Zorn war so groß, dass ich das Gefühl hatte, daran zu ersticken. Ich schluckte schwer, musste unter meiner Kapuze blinzeln. Ich stellte mir vor, wie er mich betrachtete, während ich reglos dasaß, die Hände hinter dem Rücken gefesselt, den Hals in einer Schlinge, den Kopf mit einer Kapuze bedeckt. In der Zeitung sah man manchmal Fotos von Leuten, die auf einen Platz geführt wurden, um dort von einer bereitstehenden Reihe bewaffneter Männern erschossen zu werden. So kam ich mir auch vor. Wenigstens konnte er meinen Gesichtsausdruck unter der Kapuze nicht sehen. Er wusste nicht, was ich gerade dachte. Ich bemühte mich, meine Stimme möglichst ausdruckslos klingen zu lassen.
    »Dann eben nicht«, sagte ich.

    Würde er mir wehtun, wenn der Zeitpunkt gekommen war? Oder würde er mich einfach langsam zugrunde gehen lassen? Ich war nicht besonders tapfer im Ertragen von Schmerzen. Bei einer Folterung würde ich sofort zusammenbrechen und jedes Geheimnis preisgeben, da war ich sicher. Doch meine Situation war noch viel schlimmer. Sollte er mich tatsächlich foltern, konnte ich nichts tun, um ihn zum Aufhören zu bewegen, weil ich keine Informationen preiszugeben hatte. Vielleicht würde er ja Sex von mir wollen. In der Dunkelheit auf mir liegen und mich dazu zwingen. Mir die Kapuze vom Kopf zerren, mein nacktes Gesicht betrachten, den Knebel aus meinem Mund ziehen und seine Zunge hineinschieben.
    Seinen … Ich schüttelte heftig den Kopf. Der Schmerz in meinem Schädel war fast eine Erleichterung.
    Ich hatte mal gelesen oder gehört, dass eine Gruppe von Soldaten, die sich einer besonderen Elitetruppe anschließen wollten, den Befehl bekamen, eine weite Strecke mit

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