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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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unterzubringen – festgebunden, um sie vor weiteren Verletzungen zu bewahren. Aber zog man Katastrophenopfern Kapuzen über den Kopf? Chirurgen trugen kapuzenartige Kopfbedeckungen, jedoch nichts über den Augen. Vielleicht ging es darum, Infektionen zu vermeiden.
    Ich hob erneut den Kopf. Mit dem Kinn erfühlte ich ein Shirt. Ich war bekleidet. Ja. Ich spürte Kleidung auf meiner Haut. Ein Shirt, eine Hose, Socken. Keine Schuhe.
    Irgendwo in meinem Hinterkopf tauchten andere Gedanken auf. Grausame Gedanken. Gefesselt. Umgeben von Dunkelheit. Eine Kapuze über dem Kopf. Lächerlich.
    Konnte es sich um einen Scherz handeln? Würden gleich alle aus ihren Verstecken springen, mir die Binde von den Augen reißen und »April April!« schreien? Aber war überhaupt April? Ich konnte mich an kaltes Wetter erinnern. War der Sommer schon vorbei, oder stand er erst noch bevor? Eigentlich eine dumme Frage, denn natürlich gab es immer einen Sommer, der schon vergangen war, und einen neuen, der bevorstand.

    Lauter Sackgassen. Ich ging sie alle ab, ohne fündig zu werden. Irgendetwas war passiert, so viel wusste ich immerhin. Möglicherweise handelte es sich dabei um etwas Lustiges, auch wenn es sich nicht lustig anfühlte.
    Vielleicht hatte sich aber auch etwas Schlimmes ereignet, und von offizieller Seite wurden gerade geeignete Maßnahmen ergriffen. Die Kapuze – oder der Verband, ja, wahrscheinlich handelte es sich um einen Verband. Das war plausibel. Vielleicht hatte ich eine Kopfverletzung davongetragen, meine Augen oder Ohren hatten Schaden genommen, und mein gesamter Kopf war zu meinem eigenen Schutz mit Verbänden umwickelt. Sie würden bald entfernt werden. Es würde ein wenig brennen. Eine freundlich dreinblickende Krankenschwester würde sich über mich beugen. Keine Sorge, es besteht kein Grund zur Sorge, würde sie zu mir sagen.

    Es waren noch andere Möglichkeiten denkbar.
    Furchtbare Möglichkeiten. Ich musste an den Steinboden unter meinen Fingern denken, an die feuchte Luft, wie in einer Höhle. Bis jetzt war da nur der Schmerz und das Chaos meiner Gedanken gewesen, aber plötzlich spürte ich noch etwas anderes. Angst sickerte wie Schlamm in meine Brust. Ich gab ein Geräusch von mir, ein leises Stöhnen. Offenbar war ich in der Lage zu sprechen.
    Obwohl ich nicht wusste, wen ich rufen oder was ich sagen sollte, versuchte ich es ein wenig lauter. Ich hoffte, das Echo oder die Schärfe des Geräusches würde mir etwas über meinen Aufenthaltsort verraten, aber mein Ruf wurde durch die Kapuze gedämpft. Ich rief erneut, diesmal so laut, dass mein Hals schmerzte.
    Nicht weit von mir entfernt bewegte sich etwas. Neue Gerüche stiegen mir in die Nase. Schweiß und Rasierwasser. Ich hörte jemanden atmen, polternd auf mich zukommen. Plötzlich war mein Mund voller Stoff.
    Ich bekam kaum mehr Luft, nur noch durch die Nase.
    Irgendetwas wurde fest um mein Gesicht gebunden.
    Heißer Atem streifte meine Wange, dann drang aus der Dunkelheit eine Stimme an mein Ohr. Es war kaum mehr als ein Flüstern, heiser, gepresst und so undeutlich, dass ich mich anstrengen musste, um die Worte zu verstehen.
    »Nein«, sagte die Stimme. »Noch ein Mucks, und ich binde dir auch noch die Nase zu.«
    Ich musste würgen. Der Stoff füllte meinen ganzen Mund aus, rieb gegen meinen Gaumen. Mein Hals schmeckte plötzlich nach Fett und ranzigem Kohl. Ein Krampf durchzuckte mich, und Übelkeit stieg wie Feuchtigkeit in mir auf. Ich durfte mich nicht übergeben.
    Verzweifelt schnappte ich nach Luft, versuchte vergeblich, durch den Stoff zu atmen. Es ging nicht, mein Mund war völlig verstopft. Ich zerrte mit beiden Armen an den Fesseln und versuchte gleichzeitig Luft zu holen. Ich fühlte mich, als würde sich mein ganzer Körper auf dem rauen Steinboden zuckend aufbäumen, als wäre kein bisschen Luft mehr in mir, nur noch schmerzhaftes Vakuum und grelles Rot hinter meinen hervorquellenden Augen, und ein Herz, das hektisch durch meinen Hals nach oben drängte, während ein seltsam heiseres Geräusch aus meiner Kehle drang, wie ein Husten, der nicht zustande kommen wollte. Ich war ein sterbender Fisch.
    Ein Fisch, der sich auf dem harten Boden hin und her warf. Gefesselt hing ich am Haken, aber in meinem Inneren schien sich alles zu lösen, als würden meine gesamten Eingeweide zerrissen. Fühlt sich das so an?
    Wenn man stirbt? Wenn man lebendig begraben wird?
    Ich musste atmen. Wie atmet man? Durch die Nase. Er hatte etwas von meiner Nase

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