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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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Namen sämtlicher Opfer verlesen«, bemerkte Kathy, als sie die zwei Stockwerke zur Straße hinuntergingen.
    »Ich weiß«, sagte er. In der ganzen Stadt fanden Veranstaltungen und Feierlichkeiten statt, sie hatten sich jedoch für das Brahms-Requiem entschieden. Lee konnte sich gerade in dieser Zeit keine bessere musikalische Begleitung vorstellen als Brahms.
    Sie traten in die einsetzende Dämmerung auf die East Seventh Street hinaus und gingen Richtung U-Bahn-Station Astor Place. Im McSorley’s war die Schar der sich nachmittags dort versammelnden Einheimischen schon vom lauteren Abendpublikum der Pendler abgelöst worden – vielleicht hatten die Stammgäste aber auch beschlossen, den Jahrestag damit zu begehen, sich noch weitere repräsentative Mengen von McSorley’s Ale hinter die Binde zu kippen. Jedenfalls hörte Lee aus dem Hinterzimmer heisere Gesänge, ein halbes Dutzend wie Ziegel aneinanderreibende Stimmen, die in einer sturzbetrunkenen Fassung eines alten schottischen Volkslieds um Harmonie rangen.
    And we’ll all go together to pluck wild mountain thyme
    All around the blooming heather
    Will you go, lassie, go?
    Den vertrauten Liedtext von so tapfer bebenden Stimmen gesungen zu hören trieb ihm unerwartet die Tränen in die Augen, denn seine Eltern waren schottischer Herkunft. Es war das Lied, erinnerte er sich, das sein Vater seiner Mutter oft vorgesungen hatte, bevor Duncan Campbell die Tür ein letztes Mal hinter sich zumachte und seine Familie für immer verließ. Schon vor langer Zeit hatte Lee sein Herz vor jeder anderen Regung außer Wut seinem Vater gegenüber verschlossen, deshalb war diese Gefühlsanwandlung ebenso überraschend wie unerwünscht. Er räusperte sich und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, aber vor Kathy ließ sich nichts verheimlichen.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sie sich. Sie hatten inzwischen die Third Avenue erreicht, und vor ihnen ragte in der behäbigen Pracht des 19. Jahrhunderts der Backsteinbau des Cooper Building auf. Die Vollstipendien dieses Bollwerks der Kunst und Architektur für jeden einzelnen seiner Studenten waren ein Vermächtnis von Peter Coopers Überzeugung, Hochschulbildung solle »umsonst wie Luft und Wasser« sein.
    »Mir geht’s prima«, erwiderte er und klemmte ihren Arm unter seinen, als sie die Third Avenue überquerten. Doch das entsprach natürlich nicht ganz der Wahrheit. Heute Abend ging es in New York niemandem prima.

KAPITEL 6
    Das Bett war so groß und breit und der Körper seiner Schwester so klein. Auf Zehenspitzen trat Davey näher, besorgt, jedes Geräusch, das er verursachte, würde sie aufwecken oder noch kränker machen. In seinem Rücken trieb ihn die Stimme seiner Mutter an. Er konnte ihr Rosenparfüm riechen.
    »Geh weiter, Davey. Das ist in Ordnung. Geh zu ihr – du wirst ihr nicht wehtun.«
    Er wollte sich umdrehen und aus dem Zimmer rennen, aber alle beobachteten ihn. Die gesamte Familie hatte sich im Schlafzimmer versammelt, saß auf an der Wand aufgereihten Stühlen oder stand um das schwere Himmelbett aus Eiche herum. Sie trugen alle Schwarz, wie große, gebückte Krähen – ihre langen, eingefallenen Gesichter wirkten nicht einmal mehr menschlich. Starr blickten sie auf seine Schwester Edwina hinab, deren winziger, in Tücher und Verbände gewickelter Körper in einem Meer aus Kissen versank.
    Davey drehte sich um, um seine Mutter anzusehen, deren Gesicht vom Weinen ganz verquollen war. Ihre Lippen waren geschwollen und ihre Nase von fleckigem Rot, das ihn an den gekochten Hummer erinnerte, den er einmal in einem Restaurant gesehen hatte.
    »Geh schon, Davey«, sagte sie. »Gib deiner Schwester einen Kuss.«
    Er konnte nicht verstehen, warum er seine Schwester küssen sollte. Edwina schien zu schlafen. Was, wenn sie aufwachte, ausgerechnet wenn Davey hinkam? Was, wenn sie zu weinen anfing oder, noch schlimmer, diesen schrecklichen Jammerlaut machte, den sie schon seit Tagen von sich gab – ein schwaches, gequältes Stöhnen, das er in seinem eigenen Schlafzimmer hören konnte? Es drang einfach durch die Wände. Nachts häufte er sich Kissen über den Kopf, doch nicht mal ein ganzer Kissenstapel konnte Davey davor schützen, diesen furchtbaren klagenden Laut zu hören. Manchmal rief er Mitleid mit seiner Schwester hervor, dass ihm das Herz ganz wehtat, und manchmal hasste er sie – dafür, dass sie ihre Mutter zum Weinen brachte, dass sie alle die ganze Nacht wach hielt und dass sie ihm so

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