Seelenqual: Peter Nachtigalls zweiter Fall (German Edition)
1
Montag
Die Wohnung war mit einem Mal erschreckend leer.
Die Wände schienen sich auf sie zuzuwälzen, zogen sich wieder zurück, dehnten sich, beulten sich nach innen oder außen. Es war schwierig aufzuräumen, wenn man nicht sicher wusste, wo der Gegenstand sich befand, nach dem man greifen wollte. Sie würde mit Falco reden müssen – so ein Zeug sollte er ihr bloß nicht noch mal andrehen!
Vielleicht würde ein Schluck Wasser helfen.
Langsam tastete sie sich durch die Dunkelheit in die Küche. Jimmy Hendrix’ Stimme erfüllte die ganze Wohnung. Woodstock. Er singt für mich ganz allein, dachte sie entrückt, nur für mich.
Überall brannten Kerzen. Sie bildeten Inseln des Lichts und warfen bizarre, lebendig erscheinende Schattenfiguren an Wände und Decke. Mit einem Mal kamen sie ihr nicht mehr gemütlich vor – sie wirkten bedrohlich, als könnten sie sich jeden Moment von der Tapete lösen, um nach ihr zu greifen und sie ins Verderben zu ziehen. Schauer huschten über ihren Rücken. Sie fühlte sich von tausend Augen beobachtet. Jeder Schritt wurde aufmerksam verfolgt.
Das Gehen fiel ihr schwer – der Fußboden schien sich immer wieder wellenförmig vor ihr aufzuwerfen. Seltsame, filigrane Tiere in pink und blau mit Flügeln aus hellgrünem, glänzendem Metall schwammen darin. Versuchte sie über die Erhebungen zu klettern ohne eines der zarten Wesen zu verletzen, lösten sie sich mit der Welle in bunten Wolken auf und sie trat unnötig hart auf, geriet ins Taumeln. Nur gut, dass keiner meiner Nachbarn etwas sehen kann, sie lachte leise, die Vorhänge waren zum Glück alle geschlossen.
Ein Geräusch ließ sie herumfahren.
Verstohlene Schritte.
Die heftige Bewegung verstärkte den Schwindel und sie wäre beinahe zu Boden gestürzt.
Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
Waren doch noch nicht alle gegangen?
Sie schalt sich eine Närrin, die sich von den Schatten der Kerzen ins Bockshorn jagen ließ. Die Party
war vorbei – und eigentlich konnte sie die Kerzen jetzt löschen und die Deckenbeleuchtung einschalten!
Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter.
Ihr Atem stockte.
Auf dem Schalter lag die kühle, glatte Lederhand eines anderen!
In ihrem Kopf gab es eine heftige Explosion, als sie sich darum bemühte einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr Puls raste und ihr Atem ging viel zu schnell. Da war jemand in der Wohnung, es war keiner ihrer Gäste, die waren schon alle gegangen – aber das Schlimmste war, dass sie nichts erkennen konnte! Vielleicht lehnte da eine dunkle Gestalt an der Wand – oder auch nicht. Jedenfalls bewegte sie sich nicht.
Oh, Shit – warum kann ich nicht mehr richtig denken?, überlegte sie träge. Undeutlich wurde ihr bewusst, dass sie allen Grund hätte sich zu fürchten. Sie versuchte sich daran zu erinnern, ob man das, was hier gerade geschah einen Überfall nannte, kam aber zu keinem abschließenden Ergebnis. Vage erkannte sie, dass sie solch eine Situation befürchtet hatte. Ihr fiel wieder ein, dass sie sich bedroht gefühlt hatte – deshalb waren auch immer alle Vorhänge zugezogen und die Wohnungstür abgeschlossen gewesen, erinnerte sie sich mühsam. Aber – wie war die Gestalt dann hereingekommen? Hatte sie vergessen nach Marlin wieder abzuschließen?
»Wer bist du? Ich kann dich nicht sehen!«, der Kloß in ihrem Hals ließ ihre Stimme fremd klingen. Einen Moment lang lauschte sie den Worten nach, unsicher, ob sie sie wirklich ausgesprochen oder nur gedacht hatte.
»Dein Tod.«
Was war das denn für eine kryptische Antwort? Bereitwillig entstanden in ihrem Kopf Bilder eines Sensenmannes mit Totenkopf und schwarzem Umhang – fröhlich tupften Jimmy Hendrix und Falcos Pillen ein paar bunte Blumen darauf. Trotz ihrer Angst konnte sie das aufsteigende Kichern nicht gänzlich unterdrücken – es hatte allerdings selbst in ihren Ohren einen hysterischen Klang.
»Gut – wir müssen aufräumen. Du kannst helfen!« Wahrscheinlich war alles nur ein Spaß. Irgendwer wollte ihr einen Mordsschrecken einjagen und hatte im Dunkeln gewartet bis alle Partygäste gegangen waren. Ihre Freunde hatten mitunter einen seltsamen Humor. Mit aufschießender Panik fiel ihr Udo ein. Was, wenn es Udo war?
»Ja – ich bin auch zum Aufräumen hier«, flüsterte die fremde Stimme in ihr Ohr.
Als sie die lange spitze Klinge aufblitzen sah, wusste sie plötzlich, dass sie nicht über dieselbe Art Aufräumen gesprochen haben
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