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In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
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entgangen war. »Mit diesem Gerät bieten sich Ihnen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Sie könnten sich mühelos befreien. Trotzdem können Sie es nicht einsetzen. Und warum nicht? Aufgrund einer sinnlosen bürokratischen Vorschrift. Aufgrund eines kulturellen Versagens. Sie haben sich selbst die Hände gebunden, und die Schuld daran tragen Sie ganz allein.«
    »Ich befehle es dir zum drittenmal. Tu's trotzdem.«
    »Also gut«, sagte die Aktentasche.
    »Du verfluchter ...!« Gregorian sprang auf, in einer Hand hielt er plötzlich das Messer. Dann versteifte er sich unvermittelt, verlor das Gleichgewicht und fiel um. Er schlug schwer auf dem Boden auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er ins Leere. Er verkrampfte sich, entspannte sich wieder. Lediglich ein Arm zitterte noch unkontrolliert.
    »Das ist komplizierter, als ich ...«, setzte die Aktentasche an. »Ah. Ich hab's.« Der Arm hörte auf zu zittern. Langsam und schwerfällig wälzte sich der Magier auf die Seite, kam auf alle viere hoch. »He! Durch sein Sensorium kann ich problemlos sehen.« Gregorians Kopf schwenkte hin und her. »Was für ein Ort!«
    Dreimal versuchte die Aktentasche, Gregorian aufzurichten. Jedesmal neigte sich der Magier vornüber und sackte wieder zusammen. Schließlich mußte sich die Aktentasche geschlagen geben. »Ich krieg's einfach nicht hin, Chef.«
    »Macht nichts«, sagte der Bürokrat. »Dann soll er eben kriechen.«

    Unter den Vorräten, die der Magier angelegt hatte, befand sich auch ein Diagnostiker mit einem kompletten Sortiment von Medikamenten. Als sich der Bürokrat einer Blutwäsche unterzogen, ein Zentrierungsmittel eingenommen und sich das Gesicht gewaschen hatte, fühlte er sich tausendmal besser. Jetzt, wo er die Fiebertänzer und Ermüdungsgifte los war, war er zwar immer noch entkräftet, hatte aber wenigstens wieder einen klaren Kopf. Er nahm einen Feldbecher zum Eingang mit, spülte sich wiederholt den Mund und spuckte alles auf die Straße.
    Dann ging er wieder hinein und stellte den Fernseher an. Es ist soweit! plärrte das Gerät. Die Flutwelle hat soeben die Küste erreicht! Falls Sie sich noch im Einzugsgebiet oder im Schwemmdelta aufhalten, bitten wir Sie dringend ...
    Was für ein erhabener Anblick!
    ... sich unverzüglich in Sicherheit zu bringen! Ja, das ist es. Es ist beeindruckend, mitanzusehen, wie sich das Wasser mit der Morgendämmerung im Rücken aufbäumt, als wollte es das Land verschlingen. Sollten Sie sich noch jenseits der Fallinie aufhalten, ist es höchste Zeit, zu verschwinden. Dies ist Ihre letzte Chance!
    »Chef? Gregorian möchte mit Ihnen sprechen.«
    »Tatsächlich?«
    Der Bürokrat verschränkte die Arme auf dem Rücken und schlenderte zur Fensterwand. Der Horizont war mittlerweile in Bewegung. Er war eine dünne, aufgewühlte Linie und wirkte weit weniger dramatisch als im Fernsehen. Das Tideland versank jedoch bereits. Die Große Flut rückte näher. Auf der Tiefebene hatte der Wind Bäume wie Getreidehalme auf die Seite gedrückt. Lautlose Böen wehten indigofarbene Blätter an den geräuschisolierenden Fensterscheiben vorbei.
    Gregorian kniete in der Walsuhle unmittelbar vor ihm. Die Aktentasche hatte ihn mit denselben Adamantinketten festgeschweißt, mit denen er zuvor den Bürokraten gefesselt hatte. Er konnte sich weder aufrichten noch hinlegen. Ihre Blicke trafen sich. Sein Nervensystem wurde noch immer von der Aktentasche überwacht. »Stell ihn durch.«
    »Ohne meine Hilfe können Sie nicht entkommen«, sagte die Aktentasche mit Gregorians ruhiger Stimme.
    »Hier bin ich in Sicherheit.«
    »Mag sein, daß Sie die Flut überleben werden. Aber wie wollen Sie von hier wegkommen? Sie werden auf einer kleinen Insel gestrandet sein, die nie jemand finden wird. Der Proviant reicht nur für eine gewisse Zeit. Sie kennen nicht den Zugangscode, mit dem Sie einen Flieger herrufen könnten.«
    »Und Sie kennen ihn?« Der Bürokrat blickte über Gregorian hinweg zu dem Platz, wo die Aktentasche Pouffes Leichnam an einen Haken gehängt hatte. Das war er dem Mann schuldig gewesen.
    »Ja.« Ein helles, kultiviertes Lachen. »Anscheinend befinden wir uns in einer Pattsituation. Ich brauche Ihre Hilfe, um zu überleben, und Sie brauchen meine, um wegzukommen. Wir sollten einen Kompromiß schließen. Was schlagen Sie vor?«
    »Ich? Ich schlage gar nichts vor.«
    »Dann werden Sie sterben!«
    »Kann schon sein.«
    Es folgte ein langes, verblüfftes Schweigen. Dann sagte Gregorian: »Das

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