Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In Zeiten der Flut

In Zeiten der Flut

Titel: In Zeiten der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Swanwick
Vom Netzwerk:
schmecken.
    Gregorian tätschelte ihm das Knie und setzte sich wieder. »Sie sollten mir dankbar sein. Ich habe Sie eine wertvolle Lektion gelehrt. Die meisten Menschen erfahren nie, was sie alles tun würden, um am Leben zu bleiben.«
    Der Bürokrat kaute weiter. Sein Mund fühlte sich taub an, ihm war schwindelig. »Ich habe ein seltsames Gefühl.«
    »Haben Sie jemals einen Menschen gehaßt? Ich meine, wirklich gehaßt. So sehr, daß Ihnen Ihr eigenes Glück, selbst Ihr Leben, nichts mehr bedeutet hat, solange Sie nur das Leben des anderen ruinieren konnten?«
    Ihr Kauen synchronisierte sich, die Kiefer mahlten im gleichen Rhythmus, geräuschvoll, feucht. »Nein«, hörte der Bürokrat jemanden antworten. Es war seine eigene Stimme. Das aber war auf schwer bestimmbare Art eigenartig. Er verlor jedes Ortsgefühl, sein Bewußtsein breitete sich immer weiter aus, so daß er eigentlich nirgends mehr war, sondern nur noch teilhatte an unterschiedlichen Graden von Wahrscheinlichkeit. »Ich schon«, sagte er mit der Stimme des Magiers.
    Verwundert öffnete er die Augen und blickte in sein eigenes Gesicht.
    Der Schock versetzte ihn wieder in seinen Körper zurück. »Wen haben Sie so gehaßt?« keuchte er. Abermals verlor er seine Identität. Er hörte Gregorian lachen, ein wahnsinniges, krankes Geräusch mit einem gequälten Unterton, und es stammte gleichermaßen von ihm wie vom Magier. »Mich«, sagte er, und die tiefe Stimme vibrierte in seiner Magengrube. »Mich, Gott, Korda - alle zu gleichen Anteilen. Ich konnte die drei nie richtig auseinanderhalten.«
    Der Magier redete weiter, und unter dem Einfluß der Droge versenkte sich der Bürokrat so sehr in dessen Worte, daß sich der letzte Rest seines Ichs verflüchtigte. Das Rätsel der Individualität entwirrte sich. Er wurde Gregorian, wurde zum jungen Magier, der vor vielen Jahren in Anwesenheit seines Klon-Vaters in einem trüberhellten Raum tief im Hypergravitationsbezirk von Laputa gestanden hatte.

    Er stand aufrecht wie ein Ladestock und fühlte sich unwohl. Er war zu spät gekommen, denn er hatte sich verlaufen. Ihm mangelte es an den Hinweisen, von denen sich alle anderen durch das dreidimensionale Labyrinth der Korridore leiten ließen, mit seinen breiten Boulevards, die sich in einem Gewirr unsinniger Schleifen auflösten, mit seinen Rampen und Treppen, die unvermittelt vor leeren Wänden endeten. Das Büro war fürchterlich bedrückend, ein dunkler Raum mit monolithischen Steingebilden, und er wunderte sich darüber, wieviel Prestige Außenweltler einem derartigen Ambiente beimaßen. Es hatte irgend etwas mit Unzugänglichkeit zu tun. Korda war ihm gegenüber in einen Schreibtisch eingebettet.
    Ein Schwarm Fische huschte durchs Zimmer, doch es waren bloße Projektionen der Fiebertänzer, darum achtete er nicht auf sie. Aus den Augenwinkeln musterte er die Regale mit hellerleuchteten Glasblumen. In einem solchen Schwerefeld konnten sie bei der kleinsten Bewegung zu Staub zerfallen. Grellrosa Orchideen hingen schlaff aus Öffnungen in der Decke herab, ihr Duft erinnerte an verwesendes Fleisch.
    Gregorian hielt sich starr aufrecht, sein Gesicht eine sardonische Maske. Doch in Wahrheit schüchterte ihn Korda ein. Gregorian war schlanker, stärker und jünger, er verfügte über bessere Reflexe, als sie sein Erzeuger je besessen hatte. Dieser fette Mann kannte ihn jedoch in- und auswendig.
    »Einmal habe ich Scheiße gegessen«, sagte Gregorian.
    Korda kritzelte auf seinen Schreibtisch. Er brummte etwas.
    Es war noch jemand im Raum, ein permanentes Surrogat, das mit einem denebischen Wickelrock bekleidet war und eine weiße Porzellanmaske trug. Es hieß Vasli und war in seiner Eigenschaft als Finanzberater zugegen. Gregorian war das Wesen wegen seiner nichtvorhandenen Aura zuwider; es ließ keinen emotionalen Abdruck in der Luft zurück. Jedesmal, wenn er Vasli aus den Augen ließ, schien dieser sich in ein Möbelstück zu verwandeln.
    »Ein andermal aß ich ein rohes Dürr. Das ist ein Nagetier, etwa doppelt so lang wie eine Hand und haarlos. Es ist beinahe so häßlich wie verschlagen. Die Zähne haben Widerhaken, und wenn man es getötet hat, muß man ihm den Kiefer brechen, um es ...«
    »Ich nehme an, du hattest gute Gründe dafür?« meinte Korda im Tonfall völligen Desinteresses.
    »Ich hatte Angst vor den Viechern.«
    »Dann hast du also eins getötet und gegessen, um deine Angst zu überwinden. Ich verstehe. Nun, hier gibt es keine Dürrs.« Korda

Weitere Kostenlose Bücher