Incarceron
einem Lederbeutel auf dem Tisch und öffnete ihn. »Ich habe dir ein Geschenk von deiner zukünftigen Schwiegermutter mitgebracht.« Er zog es heraus und legte es auf den Tisch.
Sie beide starrten es an.
Es war ein Kästchen aus Sandelholz, das mit einem Band umwickelt war.
Zögernd griff Claudia nach der Schleife, doch der Hüter sagte: »Warte.« Dann holte er einen kleinen Scanner heraus und fuhr damit über das Kästchen. Bilder flackerten entlang des Mittelteils auf. »Harmlos.« Er steckte den Scanner wieder weg. »Mach es auf.«
Sie hob den Deckel. Im Innern der kleinen Schachtel, in einem Rahmen aus Gold und Perlen, lag eine glasierte Miniatur eines schwarzen Schwanes auf einem See: das Emblem ihres Hauses. Sie nahm das Geschenk heraus und lächelte, denn gegen ihren Willen gefielen ihr das zarte Blau des Wassers und der lange, anmutige Hals des Vogels. »Es ist schön.«
»Ja, aber sieh nur.«
Der Schwan bewegte sich. Er schien dahinzugleiten, friedlich zunächst. Dann bäumte er sich auf, schlug mit den groÃen Schwingen, und Claudia sah, wie sich langsam ein Pfeil aus den Bäumen löste und sich durch seine Brust bohrte. Er öffnete seinen goldenen Schnabel und sang ein gespenstisches,
entsetzliches Lied. Dann versank er im Wasser und war verschwunden.
Das Lächeln ihres Vaters war beiÃend. »Wie auÃerordentlich bezaubernd«, sagte er.
3
Das Experiment wird verwegen sein, und es mag Risiken
bergen, die wir nicht vorausgesehen haben. Aber Incarceron
wird ein System von groÃer Komplexität und Intelligenz sein.
Es kann keinen zugewandteren oder mitfühlenderen
Wächter für seine Insassen geben.
PROJEKTBERICHT./.MARTOR SAPIENS
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E s war ein langer Weg zurück zum Schacht, und die Gänge waren niedrig. Die Maestra lief mit gesenktem Kopf; sie war schweigsam und hatte ihre Arme um ihren Körper geschlungen. Keiro hatte den GroÃen Arko als ihren Bewacher abgestellt. Finn hielt sich ganz am Ende, noch hinter den Verwundeten.
In diesem Teil des Flügels war Incarceron düster und beinahe unbewohnt. Hier machte sich das Gefängnis nur selten die Mühe zu erwachen, es schaltete nur unregelmäÃig seine Lichter an und schickte nur wenige Käfer aus. Anders als der steinerne Transitweg oben bestand der Boden hier aus Metallgittern, die leicht unter den FüÃen nachgaben. Finn sah unterwegs das Glänzen der Augen einer Ratte, die zusammengekauert dahockte, während Staub auf ihre metallenen Schuppen rieselte.
Finn fühlte sich steif und wund und war, wie immer nach einem Hinterhalt, zornig. Von allen anderen war die aufgestaute Anspannung abgefallen; selbst die Verletzten plauderten, während
sie dahinstolperten, und in ihrem lauten Gelächter schwang Erleichterung mit. Finn drehte den Kopf und sah zurück. Hinter ihnen war der Tunnel zugig und voller Widerhall. Incarceron belauschte sie.
Er selbst konnte sich nicht unterhalten und wollte auch nicht lachen. Ein leerer Blick als Antwort auf einige scherzhafte Bemerkungen hatte die anderen abgeschreckt; er sah, wie Lis Amoz anstieà und ihre Augenbrauen hob. Finn war das egal. Die Wut in seinem Inneren war noch nicht abgeflaut und richtete sich gegen ihn selbst, und sie mischte sich mit Furcht und einem heiÃen, sengenden Stolz. Niemand sonst hatte den Mumm gehabt, sich auf diese Weise anketten zu lassen, dort in der Stille zu liegen und darauf zu warten, dass der Tod über ihn hinwegrollte.
In seinen Gedanken spürte er noch immer die riesigen Räder, hoch über seinem Kopf.
Und er war zornig auf die Maestra.
Die Comitatus nahmen keine Gefangenen. Das war eine ihrer Regeln. Keiro zu überzeugen war die eine Sache gewesen, aber wenn sie zurück zum Unterschlupf gelangt wären, dann würde Finn Jormanric die Anwesenheit der Maestra erklären müssen, und schon beim bloÃen Gedanken daran griff eine eisige Hand nach ihm. Aber die Frau wusste etwas über die Tätowierung an seinem Handgelenk, und er würde herausfinden müssen, was das war. Vielleicht würde er eine solche Chance nicht noch einmal bekommen.
Er lief weiter und dachte über die kurzen Bilder vor seinem geistigen Auge nach. Wie immer war es schmerzhaft gewesen, als ob die Erinnerung  â wenn es denn eine gewesen war  â Funken gesprüht und sich von einem tiefen, wunden Ort aus hochgekämpft hatte.
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