Incarceron
weit.«
»Du bist schon seit sehr langer Zeit bereit.«
Er trat auf sie zu, und der silberne Würfel an seiner Wächterkette fing das Licht ein. Claudia machte einen Schritt zurück. Wenn er die förmliche Steifheit dieses Zeitalters ablegte, würde
es unerträglich werden. Die drohende Gefahr, dass sein unverstelltes Wesen zutage treten könnte, lieà ihr das Blut in den Adern gefrieren. Aber er blieb bei seiner glatten Höflichkeit. »Lass mich es dir erklären. Letzten Monat kam eine Nachricht der Sapienti. Sie hatten die Nase voll von deinem Verlobten. Sie baten ihn ⦠die Akademie zu verlassen.«
Claudia runzelte die Stirn. »Aus welchem Grund?«
»Die üblichen Untugenden: Alkohol, Drogen, Schwängern der Dienstmädchen. Die Sünden törichter junger Männer schon seit Jahrhunderten. Er hat kein Interesse an seiner Ausbildung. Warum sollte er auch? Er ist der Earl von Steen, und wenn er achtzehn ist, wird er der König werden.«
Er schritt zur vertäfelten Wand und sah zu dem Porträt empor, das dort hing. Es zeigte einen sommersprossigen, siebenjährigen Jungen mit einem frechen Gesicht, der zu ihnen hinabblickte. Er war in einen gerüschten, braunen Seidenanzug gekleidet und lehnte an einem Baum.
»Caspar, Earl von Steen. Kronprinz des Reiches. Prächtige Titel. Sein Gesicht hat sich nicht verändert, nicht wahr? Damals war er lediglich unverschämt. Heute ist er ein gewalttätiger Nichtsnutz, und er glaubt, dass er auÃerhalb jeder Kontrolle steht.« Der Hüter sah Claudia an. »Eine Herausforderung, das ist dein zukünftiger Ehemann.«
Sie zuckte mit den Schultern, was ihr Kleid zum Rascheln brachte. »Ich werde schon mit ihm klarkommen.«
»Natürlich wirst du das. Dafür habe ich gesorgt.« Er ging zu ihr hinüber und blieb vor ihr stehen, während sein grauer Blick auf ihr ruhte. Sie starrte unverwandt zurück.
»Ich habe dich auf diese Hochzeit vorbereitet, Claudia. Ich habe dir Geschmack, Intelligenz und Skrupellosigkeit mitgegeben. Deine Ausbildung war umfassender als die eines jeden anderen im ganzen Reich. Sprachen, Musik, Schwertkunst, Reiten,
jedes Talent, das du auch nur in Ansätzen zeigtest, habe ich gefördert. Kosten spielen für den Hüter von Incarceron keine Rolle. Du bist die Erbin von groÃen Ländereien. Ich habe dich als Königin aufwachsen lassen, und Königin wirst du sein. In jeder Ehe gibt es einen, der führt, und einen, der folgt. Auch wenn es nur eine arrangierte Ehe aus dynastischen Gründen ist, wird es dennoch auch bei euch so sein.«
Claudia blickte nun ebenfalls zu dem Porträt hoch. »Mit Caspar kann ich umgehen. Aber seine Mutter â¦Â«
»Ãberlass seine Mutter mir. Sie und ich verstehen einander.« Er nahm Claudias Hand und hielt ihren Ringfinger sanft zwischen zweien seiner eigenen Finger. Claudia war verkrampft, und so wehrte sie sich nicht gegen die Berührung.
»Es wird ganz leicht werden«, fügte er aufatmend hinzu.
In die Stille des warmen Zimmers drang von der anderen Seite des Flügelfensters her das Gurren einer Waldtaube.
Vorsichtig löste Claudia ihre Hand aus der ihres Vaters und erhob sich. »Also, wann?«
»Nächste Woche.«
» Nächste Woche! «
»Die Königin hat bereits mit den Vorkehrungen begonnen. In zwei Tagen werden wir zum Hof aufbrechen. Sorg dafür, dass du bis dahin bereit bist.«
Claudia erwiderte nichts. Sie fühlte sich leer und betäubt.
John Arlex wandte sich zur Tür. »Du hast hier gute Arbeit geleistet. Das Zeitalter ist beinahe makellos getroffen, abgesehen von diesem Fenster. Lass es austauschen.«
Ohne sich zu bewegen, fragte Claudia leise: »Wie war deine Zeit am Hof?«
»Ermüdend.«
»Und deine Arbeit? Wie geht es Incarceron?«
Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte er. Claudias Herz
hämmerte. Dann drehte ihr Vater sich zu ihr um, und seine Stimme war kalt und neugierig. »Das Gefängnis ist in bester Ordnung. Warum fragst du?«
»Ohne besonderen Grund.« Sie versuchte zu lächeln und wollte zu gerne wissen, wie er das Gefängnis überwachte und wo es sich befand, denn all ihre Spione hatten ihr erzählt, dass er den Hof niemals verlieÃ. Aber die Mysterien von Incarceron waren momentan ihre geringste Sorge.
»Ach ja. Beinahe hätte ich es vergessen.« Er griff nach
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