Indigosommer
Janice und Laura verließen das Krankenzimmer, ich ging als Letzte. Als ich mich noch einmal zu Brandee umwandte, winkte Chief Howe mich ins Zimmer zurück.
»Smilla? « Ich sah ihn an, sah, wie jung er aussah. Seine dunklen Auge n
blickten besorgt. »Ja?« »Du bist mit meinem Sohn Conrad befreundet, nicht wahr?« Ich überlegte, was ich sagen sollte. Auf jeden Fall nicht Keine
Ahnung. Irgendwie schon.
»Ja«, sagte ich und versuchte, Howes Blick standzuhalten . »Wie gut seid ihr befreundet? « In mir zog sich alles zusammen. »Ich...wir... « »Hast du ihn gern? « »Ja. « »Weißt du, wo er ist? « Ich hob erschrocken den Kopf. »Ist Conrad denn nicht zu Hau se?«
Chief Howe schüttelte den Kopf. »Er ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.«
»Nein, ich weiß nicht, wo er ist.« Ich merkte, wie sich mir die Kehle zusammenschnürte. Conrad war neunzehn und es war bestimmt nicht das erste Mal, dass er in der Nacht nicht nach Hause gekommen war. Es musste etwas anderes sein, das Chief Howe beunruhigte. Waren es dieselben Gedanken, die mir keine Ruhe ließen?
»Hast du ihn gestern gesehen?«
»Ja, am Vormittag, im »River’s Edge«. Wir waren da...wir haben dort zusammen gefrühstückt.«
»Und danach?«
»Wollte er seinem Freund und dessen Vater auf dem Fischkutter helfen.«
»Du hast ihn also nicht noch einmal gesehen?«
Ich sah zu Boden und schüttelte den Kopf.
»Na gut. Du kannst gehen. Wenn du Conrad triffst, sag ihm bitte, dass er sich bei mir melden soll. Es ist wichtig.«
Warum?, wollte ich fragen. Aber ich nickte nur und lief den anderen hinterher.
»Was wollte der Chief denn noch von dir?«, fragte Janice.
»Nichts weiter«, sagte ich. »Er wollte nur ein paar Sachen wissen, weil ich keine amerikanische Staatsbürgerin bin und noch nicht volljährig.«
»Gibt es Ärger deswegen?«
»Nein, ich denke nicht.«
Conrad läuft in Tamras Trailer auf und ab wie ein gefangener Wolf. Den ganzen Vormittag hat Kayad ihn auf Trab gehalten. Conrad hat mit seinem kleinen Neffen gespielt und es hat ihn fast unmenschliche Überwindung gekostet, geduldig zu bleiben. Sonst sind sie bei schönem Wetter immer nach draußen gegangen, aber heute geht das nicht. Niemand darf Conrad sehen mit seinem zerschlagenen Gesicht.
Mittags hat er Kayad gefüttert und nun schläft der Kleine endlich. Conrad ist im Trailer gefangen. Noch neun Stunden, bis es dunkel wird. Er weiß nicht, was da draußen geschieht, und er hat Angst. Er steht hinter den staubigen Vorhängen des Trailerfensters, schließt die Augen und sieht noch einmal das Mädchen vor sich, wie es tanzt. Diesen verzweifelten, einsamen Tanz wird er nie vergessen. Diese Nacht wird er nie vergessen.
Nachdem Boone das Mädchen in die Flucht geschlagen hat und Josh ihr gefolgt ist, läuft Conrad den beiden hinterher. Eine Wolke hat sich vor den Mond geschoben und Josh findet das Mädchen erst zweihundert Meter weiter, in der Nähe der Klippen. Sie ist gestolpert und in den Sand gestürzt. Sie ist völlig stoned – schlägt um sich, schreit und tritt wie eine Furie. Wieder kann sie Josh davonlaufen. Der Junge ist noch nicht ausgenüchtert, das sieht Conrad. Josh flucht und ruft nach dem Mädchen.
»Brandee?«
Aber es ist die Zeit der höchsten Flut und das Donnern der Brandung ist so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht.
Conrad läuft auf ihn zu. Josh starrt ihn ungläubig an. »Was willst du denn hier?«, brüllt er.
»Du darfst sie nicht alleine lassen«, sagt Conrad.
»Was geht dich das an?«, ruft sein Gegenüber. »Dein blöder Köter hat sie erschreckt.«
»Sie ist auf einem Pilztrip, hörst du? Magic Mushrooms. Lass sie nicht alleine. In ein paar Stunden ist es vorbei. Aber lass sie jetzt nicht alleine.«
Josh macht eine ärgerliche Handbewegung und verschwindet in der Dunkelheit. Conrad folgt ihm zögernd. Als die Wolke den Mond freigibt, sieht er eine schwarze Gestalt auf dem Felsen über ihm. Und dann die zweite, die ihr folgt. Josh will Brandee von den Klippen holen. Sie kämpfen – das Mädchen packt ihn – Josh schwankt.
Conrad erstarrt. Das geht nicht gut! Josh ist stark, aber die Blauen Engel verleihen Brandee ungeahnte Kräfte. Er will schreien, doch das würde nur Josh irritieren, nicht das Mädchen. Plötzlich sieht Conrad, wie eine Gestalt vom Felsen stürzt, die Arme ausgebreitet wie Flügel.
Die Klippen sind nicht hoch, nur etwa vier Meter. Aber unten ist die Flut und schwarze Felsbrocken ragen aus dem
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