Inferno - Höllensturz
alle Tassen im Schrank hast.«
»Natürlich hab ich sie nicht alle«, entgegnete Angelese leichthin. Sie lag auf den Knien und spähte durch das Ophit-Sichtglas über den Rand des Ports. »Ich bin eine Caliginautin, wir sind nicht gerade für unsere psychische Stabilität bekannt.«
»Du ahnst ja nicht, wie sicher ich mich jetzt fühle.« Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch herum, als sie wieder hinuntersah. Durch eine Lücke in den Wolken konnte sie die Spitze des Mephisto-Turms erkennen. Gargoyles schlichen über die Simse und gehörnte Wachtposten patrouillierten auf dem Dach. Der eiserne Antennenmast schwankte unter der Last lebendiger Körper, die an Galgen von ihm herabhingen.
Sie will wirklich da reingehen , wurde Cassie bewusst. Angelese ist tatsächlich verrückt . In den Turm zu kommen, war völlig unmöglich, das wusste jeder. Sie blinzelte; kaum konnte sie die darmähnlichen Windungen erkennen, die sich um den ersten Stock des Gebäudes schlängelten. Der einzige Weg hinein war durch die Fleischlabyrinthe, die Sicherheitsbarriere des Turms. Doch wenn irgendjemand dort eindrang, wurde eine Immunreaktion ausgelöst und die Antikörper der Labyrinthe griffen sofort an. »Es ist unmöglich, deshalb weiß ich nicht, warum du überhaupt darüber nachdenkst. Die Fleischlabyrinthe sind undurchdringlich.«
»Nicht, wenn man das Gegenmittel hat«, erklärte der Engel. »Wie, glaubst du, kommen die anderen Gefallenen Engel und das autorisierte Personal rein?«
»Ein Serum?«, fragte Cassie.
»Ja, eine Art Serum. Die Wirkung hält nur sehr kurz an, aber mit dem Impfstoff greift einen das Immunsystem der Labyrinthe nicht an.«
Was für eine faszinierende Information. »Und du hast diesen Impfstoff?« Beinahe freute sich Cassie.
»Ähm, nein.«
So viel zu der faszinierenden Information. Cassie verzog den Mund. Wieder eine Enttäuschung. »Was machen wir dann hier? Wir verschwenden nur unsere Zeit.«
»So stimmt das nun auch nicht.«
»Angelese, lies es von meinen Lippen ab: Wir KOMMEN NICHT REIN.«
Der Engel konzentrierte sich auf das merkwürdige Fernglas. »Zumindest nicht physisch.«
»Und traumchanneln können wir genauso wenig. Die Wände sind verhext, sie werden von jedem Bannspruch der Hölle geschützt.«
»Das stimmt, und du hast Recht. Wir können nicht rein, aber wir können jemanden benutzen, der sehr wohl Zugang hat.« Der Engel lehnte sich zurück in den Nektoport und betrachtete das Ophit-Sichtglas und seine lebendigen, blinzelnden Dämonenaugen, die als Linsen dienten. Mit jedem Augenblinzeln wurde Cassie genervter.
»Es ist eine Art Fügung«, erklärte Angelese und betrachtete weiterhin das Fernglas.
»Was?«
»Die Augen«, sagte der Engel.
»Die Augen?«
»Das Sehen.«
Cassie öffnete und schloss in blanker Frustration die Fäuste. »Augen? Sehen? Wie üblich hab ich nicht den leisesten Schimmer, wovon du überhaupt sprichst.«
Angelese gab Cassie das Gerät. »Siehst du den Typen, der am höchsten Querbalken der Antenne hängt?«
Immer noch entnervt suchte Cassie im Ophit-Sichtglas den Mast. Eine nackte Gestalt hing dort oben, am Hals aufgehängt. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt. Er war nackt und zitterte erbärmlich. Ekelhaft , dachte Cassie. Die Haut der Gestalt war blau-weiß, dunkelrote Venen zeichneten sich darunter ab. Sein kahl rasierter Schädel trug keine Hörner; sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Was für ein Dämon ist das denn?«
»Das ist ein Wahrsager vom Kathari-Rang, die höchste Klasse satanischer Seher. Luzifer ist ganz wild auf Wahrsager, und dieser da hatte Zugang zu Luzifers Scharlachhalle.«
»Warum hängt er da? Wird er bestraft?«
»Nein, er hat sich freiwillig da aufhängen lassen, als Zeichen seiner Loyalität. Wie die Mönche, die sich selbst geißeln, um ihrer Ehrfurcht vor Gott Ausdruck zu verleihen. Der Kerl hängt da immer, wenn Luzifer ihn gerade nicht braucht. Fällt dir an seinem Gesicht was Abgefucktes auf?«
Cassie zuckte bei dieser verbalen Entgleisung des Engels. Sie stellte das Fernglas etwas schärfer ein. Das Gesicht des Wahrsagers war so abstoßend wie der restliche Körper, auch hier sah man die Venen dunkelrot durchscheinen. Doch dann sah sie, was Angelese meinte. Du lieber Gott …
Der Seher hatte nur ein Auge, das mitten im Gesicht saß und so groß wie ein Pfirsich war. Im Moment war es qualvoll zugekniffen.
Cassies Haare stellten sich auf, als der Nektoport plötzlich mit rasender Geschwindigkeit
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