Inferno - Höllensturz
würde er sich am Geländer hochziehen und sich herunterstürzen.
Colin kicherte verschlagen. »Wo willst du denn hin?« Ein Schalter klickte und die Türen schlossen sich von allein vor Walter. »Das kann ich doch nicht zulassen. Du hast mich nicht ausreden lassen. Ich sagte, ich habe Candice umgebracht, um dich zu motivieren.« Er hielt den Kopf an einer langen blonden Strähne hoch. »In dieser Welt ist sie tot, so viel ist sicher. Aber in einer anderen ist sie quicklebendig. Sie wartet auf dich, Walter. Und sie liebt dich. Du kannst sie dort treffen, und du wirst alles verstehen, wenn du erst all die Zettel im Nebenraum gelesen hast.«
Walter hatte ihm kaum zugehört. Er heulte wie ein Baby da auf dem Teppich, die schmalen Hände zu Fäustchen geballt.
»Nun muss ich meinen Teil des Deals erfüllen«, sprach Colin weiter. Er warf Candices Kopf in den Whirlpool, wo er zwischen den Blasen fröhlich auf und ab hüpfte.
Die Pendeluhr begann zu schlagen, es war Mitternacht.
»Meine Glorie erwartet mich, und dein Schicksal erwartet dich …« Colins Stimme wurde leiser und leiser, während eine Kerze nach der anderen im Raum zischend verlöschte. Walter reckte den Hals, um aufzusehen. Konnte es etwa sein, dass aus dem Kopf des kaum erkennbaren Schattens seines Bruders Hörner sprossen? »Ich weiß, das klingt alles völlig verrückt, aber glaub mir, Luzifers Plan ist vollkommen vernünftig. Du kannst nicht derjenige sein, der Selbstmord begeht. Ich muss es sein.« Colin sah zu Boden. »Wir sind beide Weicheier, Walter. Aber dort, wo wir hingehen, werden wir Könige sein. Nimm dein Schicksal an.«
Walters Augen wurden wie von unsichtbarer Hand offen gehalten. Er musste zusehen. Er wollte nicht zusehen, aber etwas schien ihn dazu zu zwingen.
Hinter der Bar holte Colin Walters Remington-Gewehr hervor und steckte mit einer Hand eine Patrone in die Kammer, als habe er nie etwas anderes getan.
Klack!
»Jetzt pass gut auf, Brüderchen. So erschießt man sich!« Er steckte sich den Gewehrlauf in den Mund, in einem leicht aufwärts geneigten Winkel, und zog sofort den Abzug durch.
Der Raum wurde von dem ohrenbetäubenden Knall erschüttert. Colins Kopf löste sich mehr oder weniger in Nichts auf, als die riesige Kugel in seinen Schädel einschlug.
Eine Sekunde später schwebten der rote Nebel und die winzigen Knochensplitter langsam zu Boden. Walters Gesicht und die weißen Verbände um seinen Kopf waren mit Blut bespritzt. Er lag stöhnend auf dem Boden. Das Geräusch des Schusses war das Lauteste gewesen, was er je im Leben gehört hatte; er stand unter Schock und zitterte stark.
Er spürte, dass um ihn herum Gestalten waren, doch er sah nicht auf. Er wollte die Augen nicht öffnen, weil er sonst den kopflosen Leichnam seines Zwillingsbruders neben sich liegen sehen müsste. Schwielige Hände legten sich fordernd auf ihn: einige der Mädchen aus dem anderen Zimmer. Sie hoben Walter auf.
Dann setzten sie ihn wieder in den Rollstuhl und schoben ihn zurück in das Zimmer mit den Tischen.
Der Rauch des Schmelztiegels war ausgegangen. Auf den Tischen lagen mehrere Notizbücher, sauber aufgestapelt. Walter konnte immer noch keinen klaren Gedanken fassen; immer noch kam er nicht über den Schrecken hinweg, dass 1.) sein Bruder sich vor seinen Augen umgebracht hatte, und er 2.) Candices Kopf in einer Kiste gefunden hatte. Der Wahnsinn schien uneingeschränkt zu herrschen, das war die einzige Feststellung, die jetzt noch Bestand hatte.
Die Mädchen – die nackten Drogensüchtigen – standen nun alle in Reih und Glied vor Walter, wie eine Armeeeinheit, die auf die Inspektion wartet. Er betrachtete die dürren Gestalten, ihre seelenlosen Augen und unbeweglichen Mienen. Die lange Mangelernährung hatte bizarre Strichmännchen aus ihnen gemacht; bei den meisten waren die Brüste nur mehr Hautlappen, innen an den Ellbogen konnte man Nester von Nadeleinstichen erkennen. Das Mädchen am Ende der Reihe durchbrach die eigenartige Formation und kam auf Walter zu; ihr Haar hatte die Farbe von schmutzigem Spülwasser und die Konsistenz von Stroh.
»Wir sind jetzt fertig«, sagte sie mit piepsiger Stimme.
Walter wusste nicht, was er antworten sollte.
»Wir würden jetzt gern gehen. Dürfen wir?«
Walter nickte.
Die Mädchen, die noch in Reih und Glied standen, hielten jetzt alle Messer in der Hand. Sie sahen alle starr geradeaus, während sie alle gleichzeitig die Messer an ihre Hälse legten und langsam hineinschnitten.
Weitere Kostenlose Bücher