Inferno
sah ihn mit ihren braunen Augen forschend an. »Robert, diese ›Sache‹ ist nicht die Freisetzung einer Seuche, sondern die Errettung der Welt.« Sie zögerte. »Es gibt eine Passage in Bertrand Zobrists Essay, über die sich viele Leute aufgeregt haben – eine sehr pointierte hypothetische Frage. Ich möchte, dass Sie sie beantworten.«
»Wie lautet die Frage?«
»Zobrist fragte Folgendes: ›Wenn Sie einen Schalter umlegen könnten und damit willkürlich die Hälfte der Weltbevölkerung töten – würden Sie es tun?‹«
»Selbstverständlich nicht!«
»Okay. Aber wenn man Ihnen sagen würde, dass die Menschheit in den nächsten hundert Jahren ausstirbt, falls Sie den Schalter nicht sofort umlegen – was dann? Würden Sie ihn dann umlegen? Selbst wenn es bedeuten würde, dass Sie Ihre Freunde, Familie, möglicherweise sogar sich selbst töten?«
»Sienna, ich kann unmöglich …«
»Es ist eine hypothetische Frage«, sagte sie. »Würden Sie heute die halbe Weltbevölkerung eliminieren, um unsere Spezies vor dem Aussterben zu bewahren?«
Langdon war zutiefst verstört wegen des makabren Themas, und so zeigte er dankbar auf ein vertrautes rotes Banner an einem Gebäude direkt vor ihnen.
»Sehen Sie!«, rief er. »Wir sind da!«
Sienna schüttelte den Kopf. »Wie ich schon sagte. Verleugnung .«
KAPITEL 51
Das Museo Casa di Dante liegt an der Via Santa Margherita und ist leicht zu erkennen an dem großen roten Banner, das auf halber Höhe an der Hauswand hängt.
Sienna betrachtete das Banner verwundert. »Wir gehen in Dantes Haus?«
»Nein, genau genommen nicht. Dante lebte um die Ecke. Das hier ist mehr eine Art Museum.« Langdon war einmal in der Casa gewesen, doch die Ausstellung hatte lediglich Reproduktionen berühmter Kunstwerke enthalten, die mit Dante in Zusammenhang standen. Trotzdem war es interessant gewesen, sie alle vereint unter einem Dach zu sehen.
Sienna blickte hoffnungsvoll drein. »Und Sie glauben, dort gibt es eine alte Ausgabe der Divina Commedia ?«
Langdon kicherte. »Nein, aber ich weiß, dass es dort drinnen einen Souvenirladen gibt. Zum Angebot gehören auch große Poster mit dem gesamten Text von Dantes Divina Commedia in mikroskopisch kleiner Schrift.«
Sie sah ihn verwundert an.
»Ich weiß. Aber es ist besser als gar nichts. Das einzige Problem ist, dass meine Augen nicht mehr die besten sind, deswegen müssen Sie sich durch das Kleingedruckte kämpfen.«
»È chiusa!«, rief ein alter Mann, als sie sich dem Eingang näherten. »È il giorno di riposo!«
Wegen Ruhetag geschlossen? Langdon fühlte sich plötzlich wieder desorientiert. Er sah Sienna an. »Haben wir heute nicht Montag?«
Sie nickte. »Die Florentiner ziehen den Montag als freien Tag vor.«
Langdon stöhnte auf, als ihm der ungewöhnliche Wochenkalender der Stadt einfiel. Weil der Großteil der Touristengelder am Wochenende floss, hatten sich die Händler entschieden, den christlichen Ruhetag vom Sonntag auf den Montag zu verlegen, damit ihnen möglichst kein Profit entging.
Das schloss unglücklicherweise automatisch ein weiteres Ziel aus – die PAPERBACK EXCHANGE , Langdons Lieblingsbuchladen in Florenz, wo sie definitiv eine Ausgabe der Göttlichen Komödie hätten kaufen können.
»Haben Sie eine andere Idee?«, fragte Sienna.
Langdon überlegte einige Sekunden, bevor er nickte. »Es gibt einen Ort um die Ecke, wo sich Dante-Begeisterte treffen. Jede Wette, irgendeiner von ihnen hat eine Ausgabe dabei, die wir uns kurz leihen können.«
»Wahrscheinlich hat der Laden auch geschlossen«, warnte Sienna. »Fast alle Händler in Florenz haben den Ruhetag auf Montag gelegt.«
»Das ist kein Laden. Und dort ist bestimmt nicht geschlossen«, sagte Langdon und grinste. »Es ist eine Kirche.«
Fünfzig Meter hinter Langdon und Sienna, verborgen in der Menge, lehnte der Mann mit dem Ausschlag und dem goldenen Ohrstecker an einer Mauer und nutzte die Gelegenheit, sich zu erholen. Seine Atemnot machte ihm nach wie vor zu schaffen, und der Ausschlag juckte unerträglich, insbesondere die empfindlichen Hautpartien über den Augen. Er setzte die Plume Paris ab und rieb sich behutsam mit dem Ärmel über die Brauen, um die Haut nicht noch mehr zu reizen. Als er die Brille wieder aufsetzte, sah er, dass seine Beute sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Er drückte sich von der Wand ab und nahm die Verfolgung auf, während er so flach wie möglich atmete, um den Schmerz erträglich zu machen.
Ein
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