Inferno
schmucklos und einfach – und kleiner, als Langdon sie von seinem letzten Besuch in Erinnerung behalten hatte. Um diese Stunde war erst eine Handvoll Touristen anwesend. Sie studierten die eigenartige Sammlung von Kunstwerken, schrieben in Tagebücher oder saßen still auf den Bänken und genossen die Musik.
Mit Ausnahme des Madonnen-Altars von Neri di Bicci aus dem fünfzehnten Jahrhundert waren nahezu alle ursprünglichen Kunstwerke durch zeitgenössische Arbeiten ersetzt worden, und ausnahmslos stellten sie Dante und Beatrice dar – den Grund, aus dem die Besucher in diese Kirche kamen. Die meisten Gemälde zeigten den sehnsüchtigen Dante bei seiner ersten Begegnung mit Beatrice, in die sich der Dichter seinen eigenen Worten zufolge augenblicklich verliebt hatte. Die Gemälde waren von unterschiedlicher Qualität – die meisten kamen Langdon kitschig und unangebracht vor. Auf einem dieser »Werke« sah Dantes berühmte rote Haube mit den Ohrenklappen aus wie etwas, das der große Dichter dem Weihnachtsmann gestohlen hatte.
Trotz allem ließ das sich ständig wiederholende Thema des schmachtenden Dichters und seiner Muse keinen Zweifel daran, dass dies eine Kirche der schmerzenden Liebe war – unerfüllt, unerwidert, unbeachtet.
Langdon wandte sich nach links und blickte zu dem bescheidenen Grabmal von Beatrice Portinari. Dort stand eine besondere Sehenswürdigkeit, die viele Leute in diese Kirche lockte. Sie kamen nicht um des Grabes selbst willen, als vielmehr wegen des berühmten Objekts daneben.
Der Flechtkorb.
Der Korb stand an der gleichen Stelle wie immer, und wie stets quoll er bereits um diese frühe Stunde über vor kleinen gefalteten Briefchen, ein jedes davon handgeschrieben und an Beatrice gerichtet.
Beatrice Portinari war zu so etwas wie einer Schutzheiligen der unglücklich Verliebten geworden. Einer weit zurückreichenden Tradition zufolge legten Besucher ihre schriftlichen Gebete in den Korb. Sie alle hegten verschiedene Hoffnungen: Vielleicht würde Beatrice dabei helfen, die große Liebe zu finden, einen verstorbenen Geliebten zu vergessen oder eine unerwiderte Liebe in eine erwiderte zu verwandeln.
Auch Langdon hatte vor vielen Jahren bei seinen Recherchen für ein Buch einen Abstecher in diese Kapelle gemacht und einen Zettel im Korb hinterlassen. Allerdings hatte er Dantes Muse nicht um die große Liebe angefleht, sondern darum gebeten, ihm stattdessen ein wenig von der Inspiration zu vermitteln, die Dante zu seinem gewaltigen Werk verholfen hatte.
Sing in mir, o Muse,
Und erzähle durch mich die Geschichte …
Die einleitenden Zeilen von Homers Odyssee waren eine ehrenwerte Bitte, wie Langdon fand. Insgeheim war er überzeugt, dass seine Bitte tatsächlich Beatrices göttliche Intervention bewirkt hatte, denn nach seiner Rückkehr war ihm das Buch mit ungewöhnlicher Leichtigkeit von der Hand gegangen.
»Scusate!«, riss Siennas laute Stimme ihn aus seinen Gedanken. »Potete ascoltarmi tutti?«
Langdon fuhr herum und stellte fest, dass Sienna sich an alle versammelten Besucher gewandt hatte, die sich nun zu ihr umdrehten und sie verblüfft angafften.
Sienna lächelte zuckersüß und fragte auf Italienisch, ob irgendjemand rein zufällig eine Ausgabe von Dantes Divina Commedia bei sich hätte. Als sie zur Antwort nur merkwürdige Blicke und Kopfschütteln erntete, stellte sie die gleiche Frage auf Englisch – ohne Erfolg.
Eine ältere Frau, die den Altarraum fegte, zischte Sienna an und legte einen Finger auf die Lippen.
Sienna drehte sich zu Langdon um und sah ihn an, als wollte sie fragen: »Und jetzt?«
Obwohl Langdon ein wenig unaufdringlicher vorgegangen wäre, musste er zugeben, dass Siennas Misserfolg ihn überraschte. Bei seinen früheren Besuchen hatte er stets viele Touristen gesehen, die in diesem heiligen Raum Dantes Göttliche Komödie gelesen und das völlige Eintauchen in seine Welt genossen hatten.
Heute also nicht .
Langdons Blick ging zu einem älteren Paar, das auf einer Bank nahe beim Altar saß. Der kahle Schädel des Mannes war nach vorn geneigt. Sein Kinn ruhte auf der Brust, und er hielt eindeutig ein Nickerchen, während die Frau neben ihm hellwach zu sein schien. Unter ihrem grauen Haar lugten die Kabel von Kopfhörern hervor.
Ein Hoffnungsschimmer , dachte Langdon und schritt langsam in Richtung Altar, bis er auf gleicher Höhe mit der Frau war. Wie Langdon gehofft hatte, führten die Kopfhörerkabel zu einem iPhone in ihrem Schoß. Sie
Weitere Kostenlose Bücher