Inferno
Vatikans ist der Vasari-Korridor der perfekte Geheimgang. Er erstreckt sich über eine Länge von fast einem Kilometer: von der östlichen Ecke des Palazzo Pitti über den Ponte Vecchio hinweg, mitten durch die Uffizien bis hinein in den älteren Palazzo Vecchio.
Auch heutzutage dient der Vasari-Korridor noch als sicherer Hafen, wenn auch nicht für die Medici-Aristokraten, sondern für Kunstwerke.
An seinen nahezu endlos wirkenden geraden Wänden hingen zahllose wertvolle Gemälde – Überschuss der berühmten Uffizien-Galerie, durch die der Vasari-Korridor verlief.
Langdon hatte den Korridor vor einigen Jahren im Rahmen einer privaten Führung besichtigt. Damals hatte er die schwindelerregende Menge von Kunstwerken entlang der Wände bestaunt, einschließlich der mit Abstand größten Porträtsammlung der Welt, und er war mehrmals vor den Sichtportalen stehen geblieben, die den Besuchern ermöglichten, ihren Fortschritt entlang der erhöhten Passage abzuschätzen.
An diesem Morgen jedoch rannten Langdon und Sienna durch den Korridor, darauf bedacht, so schnell wie möglich den Abstand zwischen sich und ihren Verfolgern zu vergrößern. Langdon fragte sich, wie lange es dauern würde, bis man den gefesselten Wachmann entdeckte. Doch er war zuversichtlich. Ihm war, als führe der Korridor sie mit jedem Schritt näher zu dem, wonach sie suchten.
Cerca trova … die Augen des Todes … die Antwort auf die Frage, wer mich verfolgt .
Das Summen der kleinen Aufklärungsdrohne war hinter ihnen zurückgeblieben. Je weiter sie in die Passage vordrangen, desto deutlicher wurde Langdon bewusst, welch ehrgeiziges architektonisches Projekt dieser Korridor einst gewesen war. Er erstreckte sich fast vom Palazzo Pitti bis zum Palazzo Vecchio, entweder hoch oben über den Straßen oder unsichtbar durch andere Gebäude hindurch. Das Innere des Korridors war weiß gekalkt und schien kein Ende nehmen zu wollen. Gelegentlich bog der Weg nach rechts oder links oder beschrieb einen Schwenk, um einem Hindernis auszuweichen, während er immer weiter nach Nordosten und über den Arno führte.
Plötzlich hallten von weiter vorn Stimmen durch den Gang, und Sienna blieb erschrocken stehen. Langdon legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und deutete auf ein Sichtportal in der Nähe.
Touristen.
Langdon führte Sienna zu dem Portal. Sie spähten nach draußen und sahen, dass sie sich hoch über dem Ponte Vecchio befanden – der mittelalterlichen Steinbrücke über den Fluss, die als Fußweg in die Altstadt diente. Unter ihnen besuchten die ersten Touristen des Tages den Markt, der seit dem fünfzehnten Jahrhundert auf der Brücke abgehalten wurde. Heutzutage sind die Händler meist Goldschmiede und Juweliere, doch das war nicht immer so. Ursprünglich hatten hier die Verkäufer des großen Fleischmarkts und die Gerber gestanden, doch diese Gewerbe wurden 1593 verbannt, nachdem der Gestank verdorbenen Fleisches bis hinauf in den Vasari-Korridor gedrungen war und die empfindliche Nase des Großherzogs angegriffen hatte.
Irgendwo dort unten auf der Brücke war auch die Stelle, an der sich das berühmteste Verbrechen der Stadtgeschichte ereignet hatte. Im Jahr 1216 hatte sich ein junger Edelmann mit Namen Buondelmonte der von seiner Familie arrangierten Hochzeit widersetzt, um seiner wahren Liebe treu zu bleiben. Er war auf der Brücke brutal ermordet worden. Sein Tod hatte eine Fehde zwischen zwei mächtigen politischen Lagern ausgelöst – den Guelphen und den Ghibellinen – die anschließend jahrhundertelang gegeneinander Krieg geführt hatten. Deswegen war der Mord lange Zeit als »der blutigste Mord von Florenz« tituliert worden.
Nebenbei hatte Dante voll Bitterkeit die Ermordung Buondelmontes in seiner Commedia unsterblich gemacht: Oh, Buondelmont, was flüchtetst du auf fremden Rat dem eignen Ehversprechen, hast Böses über uns gebracht .
Bis zum heutigen Tag findet man drei Inschriften in der Nähe der Stelle, wo sich der Mord ereignet hat. Jede davon zitiert einen anderen Vers aus dem 16. Gesang von Paradiso . Eine davon hängt am Zugang zum Ponte Vecchio und verkündet unheilvoll:
DOCH WOHL STAND DIESER STADT DAS OPFER ZU ,
DAS SIE DER BRÜCKENWACHT , DEM WÜSTEN STEINE ,
MIT BLUT GEBRACHT IN IHRER LETZTEN RUH .
Langdons Blick wanderte zu dem braunen Fluss. Im Nordosten erhob sich der markante Turm des Palazzo Vecchio.
Obwohl Langdon und Sienna den Arno erst halb überquert hatten, zweifelte er nicht eine
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