Inferno
Mannes irgendetwas von einer Kostümgalerie geplärrt und Elizabeth aus ihrer Umnachtung gerissen … und aus ihrem Traum von dem grünäugigen Monster.
Sie war zurück gewesen in dem dunklen kleinen Konferenzraum beim Council on Foreign Relations in New York und hatte sich das irre Gerede des mysteriösen Fremden angehört. Der Mann war im Schatten vor der Videoleinwand auf und ab gegangen – eine hagere, großgewachsene Silhouette vor dem Bild, das ein Gewirr nackter, toter Menschen zeigte und von Dantes Inferno inspiriert worden war. Es war, als schwirrten ihr die Worte der bedrohlichen Gestalt noch immer durch den Kopf.
»Irgendjemand muss diesen Kampf aufnehmen«, sagte die Gestalt. »Oder das da ist unsere Zukunft. Die Mathematik lässt keinen anderen Schluss zu. Die Menschheit verharrt in einem Fegefeuer aus Zögern und Unschlüssigkeit und persönlicher Habgier, während die Kreise der Hölle direkt unter unseren Füßen darauf warten, uns alle zu verschlingen.«
Die ungeheuerlichen Ausführungen des Mannes waren Elizabeth zuwider. Schließlich ertrug sie es nicht länger. Sie sprang auf. »Was Sie da vorschlagen, ist …«
»… unsere einzige verbliebene Option«, beendete der unheimliche Fremde ihren Satz.
»Eigentlich wollte ich sagen ›kriminell‹«, widersprach sie.
Der Mann zuckte die Schultern. »Der Weg zum Paradies führt direkt durch die Hölle, wie Dante uns gelehrt hat.«
»Sie sind wahnsinnig!«
»Wahnsinnig?«, wiederholte der Fremde verletzt. »Ich? Ich glaube nicht. Wahnsinnig ist Ihre Organisation, die in den Abgrund starrt und bestreitet, dass er da ist! Wahnsinnig ist der Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt, während er von einem Rudel Hyänen umzingelt wird.«
Bevor Elizabeth die WHO verteidigen konnte, hatte der Mann das Bild auf dem Videoschirm gewechselt.
»Wo wir gerade von Hyänen reden«, sagte er und deutete auf den Schirm. »Hier ist das Rudel, das die Menschheit gegenwärtig einkreist … und der Ring wird immer enger.«
Elizabeth war überrascht, das vertraute Diagramm vor sich zu sehen. Es war die Grafik, die die WHO im vorangegangenen Jahr veröffentlicht hatte. Sie zeigte die Umweltprobleme auf, die nach Ansicht der Organisation die stärksten Auswirkungen auf die Weltgesundheit hatten.
Die Liste umfasste diverse Punkte: Den wachsenden Bedarf an sauberem Wasser, die globale Erwärmung, den Schwund der Ozonschicht, den Verbrauch der ozeanischen Ressourcen, das Aussterben zahlloser Spezies, den Anstieg der Kohlendioxid-Konzentration, die Abholzung der Urwälder und den globalen Anstieg des Meeresspiegels.
All diese negativen Indikatoren waren erst im Verlauf des letzten Jahrhunderts auf der Bildfläche erschienen. Inzwischen jedoch stiegen sie in besorgniserregendem Maße. Beim Anblick der Grafik überkam Elizabeth stets ein Gefühl von Hilflosigkeit. Sie war Wissenschaftlerin und glaubte fest an die Nützlichkeit von Statistiken – und diese hier zeichnete ein erschreckendes Bild, nicht der fernen … sondern der ganz nahen Zukunft.
Ihre eigene Unfruchtbarkeit hatte Elizabeth Sinskey schon oft im Leben bedrückt. Doch jedes Mal, wenn sie diese Grafik sah, verspürte sie beinahe Erleichterung, kein Kind in die Welt gesetzt zu haben.
Das ist die Zukunft, der ich mein Kind überlassen hätte?
»Im Verlauf der letzten fünfzig Jahre ist die Zahl unserer Sünden gegen die Natur exponentiell gewachsen«, fuhr der Fremde fort. »Ich fürchte um die Seele der Menschheit. Nach der Veröffentlichung dieser Grafik veranstalteten die Politiker, die Mächtigen und die Umweltaktivisten Gipfeltreffen. Sie wollten einschätzen, welche von diesen Problemen am drängendsten sind und welche wir vielleicht lösen können. Das Ergebnis? Sie schlugen insgeheim die Hände vor das Gesicht und weinten. Nach außen hin versicherten sie uns, man arbeite bereits an Lösungen, doch es seien komplexe Fragestellungen.«
»Aber es sind komplexe Fragestellungen!«
»Unsinn!«, stieß der Fremde hervor. »Sie wissen verdammt genau, dass diese Grafik noch die einfachste aller Relationen darstellt. Eine Funktion mit einer einzigen Variablen. Jede einzelne Linie in dieser Grafik steigt in direktem Verhältnis zu einem einzigen Wert – dem Wert, den zu thematisieren alle fürchten wie der Teufel das Weihwasser. Der Weltbevölkerung!«
»Ehrlich gesagt glaube ich, dass es ein wenig komplizierter …«
»Ein wenig komplizierter? Nein, ist es nicht! Einfacher geht es gar
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