Inferno
»Dort entlang!«
Brüder und seine Männer rannten über den Steg zur zweiten Tür, während die Aufklärungsdrohne wie ein hungriger Geier über ihnen schwebte.
Sie brachen durch die Tür und mussten so unvermittelt stehenbleiben, dass sie beinahe übereinander gestürzt wären.
Vor ihnen lag eine winzige Kammer mit nackten Wänden, die keinen anderen Ausgang besaß. Ein langer Holztisch stand an der Seite. Von der freskenverzierten Decke starrten groteske Gestalten höhnisch auf sie herab.
Eine Sackgasse.
Einer von Brüders Männern trat zu einer Informationsplakette an der Wand. »Moment«, sagte er. »Hier steht, es gibt eine finestra in diesem Raum – eine Art verborgenes Fenster?«
Brüder blickte sich um, konnte jedoch kein Fenster entdecken. Er durchquerte die Kammer und las die Plakette selbst.
Offensichtlich handelte es sich um das ehemalige private studio der Herzogin Bianca Cappello, und es gab ein verborgenes Fenster – una finestra segrata –, durch welches Bianca ungesehen beobachten konnte, wie ihr Mann im Saal der Fünfhundert seine Reden hielt.
Brüder suchte den Raum erneut ab und entdeckte eine kleine, gut getarnte Öffnung in der Wand. Sie war mit einem Gitter gesichert. Sind sie etwa durch dieses Loch gekrochen?
Er untersuchte die Öffnung eingehender. Sie schien zu klein für jemanden von Langdons Statur. Brüder drückte das Gesicht an das Gitter und spähte hindurch. Er blickte von hoch oben in den Saal der Fünfhundert. Hier sind sie definitiv nicht durchgekommen. Wohin zum Teufel sind sie verschwunden?
Brüder erhob sich und drehte sich zu seinen Männern um, und in diesem Moment gewann die Frustration die Überhand in ihm. In einem seltenen Anfall von unkontrollierter Emotion warf Agent Brüder den Kopf in den Nacken und stieß einen Wutschrei aus.
Es war ohrenbetäubend laut in der kleinen Kammer.
Unten im Saal der Fünfhundert fuhren Besucher und Polizisten herum und starrten erschrocken zu der kleinen vergitterten Öffnung hoch oben an der Wand. Dem Lärm nach zu urteilen, diente die ehemalige Geheimkammer der Herzogin neuerdings als Käfig für ein wildes Tier.
Sienna Brooks und Robert Langdon standen in völliger Dunkelheit.
Wenige Minuten zuvor hatte Sienna zugesehen, wie Langdon geschickt die Kette benutzt hatte, um die geheime Tür hinter der Karte von Armenien zu sichern.
Zu ihrer Überraschung jedoch waren sie anschließend nicht den Korridor entlang geflüchtet, sondern die schmale, steile Treppe hinauf, an deren Wand das Schild SENZA USCITA hing.
»Robert!«, hatte sie verwirrt gerufen. »Ich dachte, wir wollen nach unten?«
»Wollen wir auch«, antwortete Langdon mit einem Blick über die Schulter. »Aber manchmal muss man zuerst nach oben, wenn man runter will.« Er zwinkerte ihr aufmunternd zu. »Erinnern Sie sich an Satans Nabel?«
Was zum Teufel redet er jetzt schon wieder? Sienna rannte hinter ihm her, während sie über den Sinn seiner Worte nachgrübelte.
»Haben Sie Dantes Inferno nicht gelesen?«, hakte er nach.
Doch … aber damals war ich sieben . Einen Sekundenbruchteil später dämmerte es ihr. »Oh«, sagte sie. »Satans Nabel. Ich erinnere mich.«
Langdon spielte auf den Schluss von Dantes Inferno an. Um aus der Hölle zu entkommen, musste Dante über den behaarten Bauch des riesigen Satan klettern. Als er den Nabel erreichte – den vorgeblichen Mittelpunkt der Erde –, kehrte sich die Gravitation unvermittelt um, und Dante musste von da an aufwärts klettern, um tiefer nach unten ins Fegefeuer zu gelangen.
Sienna erinnerte sich an ihre Enttäuschung über Dantes laienhafte Vorstellung bezüglich der Gravitation im Erdmittelpunkt. Dante mochte ein Genie gewesen sein, aber definitiv nicht auf dem Gebiet der Mechanik vektorieller Kräfte.
Sie erreichten das Ende der Treppe und fanden eine einsame Tür mit der Aufschrift SALA DEI MODELLI DI ARCHITETTURA .
Langdon öffnete sie und bedeutete Sienna einzutreten. Dann folgte er ihr und zog die Tür hinter sich zu.
Der kahle Raum, in dem sie sich nun befanden, war bis auf ein Gewirr von Vitrinen und Schaukästen leer. In den Kästen ruhten Modelle von Vasaris architektonischen Entwürfen, von denen Sienna allerdings kaum Notiz nahm. Was sie hingegen bemerkte, war die Tatsache, dass der Raum keine Fenster, keine Türen und, wie am Fuß der Treppe angekündigt, keinen Ausgang besaß.
»Gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts war Nerio I., genannt Herzog von Athen, der Herrscher im
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