Inferno
zusammengehalten wurden. Ohne Frage breit genug, um darauf zu laufen.
»Ich kann nicht so weit springen, unmöglich!«, flüsterte Sienna.
Langdon bezweifelte ebenfalls, dass er es schaffen würde – und ein Sturz bedeutete den sicheren Tod. Er richtete den Lichtkegel auf den leeren Raum zwischen den Balken.
Zweieinhalb Meter tiefer verlief, gehalten von Eisenstangen, eine staubige horizontale Fläche – eine Art Boden. Trotz des massiven Anscheins bestand die Fläche hauptsächlich aus dünnen, verstaubten Stoffbahnen, die man zum Schutz dicht über den Leinwänden der berühmten Decke ausgespannt hatte. Unter den Stoffbahnen befanden sich die neununddreißig Gemälde von Vasari, gehalten von hölzernen Rahmen, die die Kassetten bildeten.
Sienna deutete nach unten. »Können wir nicht runterklettern und über die Rahmen laufen?«
Eher nicht, es sei denn, wir wollen durch eine Leinwand fallen und uns das Genick brechen .
»Es gibt einen besseren Weg«, sagte Langdon betont gelassen, um sie nicht zu beunruhigen. Er bewegte sich über den Querbalken langsam zum Zentralträger des Dachstuhls, der in Längsrichtung verlief. Bei seinem vorangehenden Besuch hatte Langdon nicht nur durch das Fenster in der Wand der Sala di modele geblickt, sondern den Dachboden selbst zu Fuß erkundet. Allerdings waren sie damals durch eine Tür auf der anderen – der gegenüberliegenden – Seite gekommen. Falls seine Erinnerung ihn nicht im Stich ließ, befand sich längs des zentralen Tragbalkens ein stabiler Laufsteg. Dieser Steg führte zu einer großen Aussichtsplattform in der Mitte des Raums.
Doch als Langdon die Mitte des Querbalkens erreichte, erblickte er vor sich lediglich einen improvisierten Brettersteig, der mit dem Laufsteg aus seiner Erinnerung nicht das Geringste gemeinsam hatte.
Wieviel Nebbiolo habe ich damals eigentlich getrunken?
Statt einer stabilen, für Touristen geeigneten Konstruktion erblickte er ein Sammelsurium verschiedener loser Planken und Dielen, die von einem Querträger zum nächsten führten – kaum breiter als zwanzig Zentimeter und auf jeden Fall eine wacklige Angelegenheit.
Anscheinend reichte der Touristenlaufsteg von der anderen Seite nur bis zur Aussichtsplattform in der Mitte des Dachbodens, und die Besucher mussten denselben Weg zurückgehen, den sie gekommen waren. Der Plankenweg, den Langdon und Sienna vor sich hatten, war offenbar nur für Handwerker oder Techniker gedacht, die von Zeit zu Zeit Reparaturen und Wartungsarbeiten auf dieser Seite des Dachbodens vornehmen mussten.
»Sieht wacklig aus«, bemerkte Langdon mit einem unsicheren Blick nach vorn.
Sienna zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Auch nicht schlimmer als Venedig bei Hochwasser.«
Da hat sie nicht ganz Unrecht , dachte Langdon. Bei seinem letzten Abstecher in die alte Stadt am Ende der Adria hatte der Markusplatz dreißig Zentimeter tief unter Wasser gestanden. Langdon war vom Hotel Danieli bis zum Dom über Dielen gelaufen, die auf Steinblöcken und umgedrehten Eimern geruht hatten. Die Konsequenzen eines Fehltritts – nasse Füße – waren in Venedig ungleich kleiner gewesen als hier, wo nach dem Sturz durch ein Meisterwerk der Renaissance der sichere Tod lauerte.
Langdon verdrängte den Gedanken und balancierte mit gespielter Lässigkeit auf das erste schmale Brett hinaus, in der Hoffnung, Sienna dadurch zu beruhigen. Sein Puls jagte in die Höhe, während er die Planke überquerte. Als er sich der Mitte näherte, bog sich das Holz unter seinem Gewicht und knarrte unheildrohend. Er balancierte weiter, etwas schneller als zuvor, und erreichte wenige Augenblicke später den zweiten Querträger.
Aufatmend drehte er sich um, um Sienna den Weg zu beleuchten und notfalls ermutigend auf sie einzureden. Es war nicht nötig. Sobald das Licht auf die Planke fiel, huschte sie mit bemerkenswertem Geschick darüber. Das Holz bog sich kaum unter ihrem Gewicht, und Sekunden später war sie bei Langdon auf der anderen Seite angekommen.
Ermutigt wandte Langdon sich um und überquerte die nächste Planke. Sienna wartete, bis er den nächsten Träger erreicht hatte und ihr leuchtete, dann folgte sie ihm. Auf diese Weise bewegten sie sich in einem stetigen Rhythmus durch den antiken Dachstuhl – zwei Gestalten, die im Licht einer einzelnen Taschenlampe nacheinander von einem Querträger zum nächsten balancierten. Irgendwo unter ihnen erklang das Geräusch von Walkie-Talkies, deutlich zu hören durch die dünne
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