Infinity (German Edition)
prallte.
Augenblicklich verstummte das gesellige Lärmen.
Der Junge öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Mit angehaltenem Atem versuchte er etwas von den Vorgängen im Lokal mitzubekommen. Nach dem ersten Moment der Stille erkannte er den markanten Bass des Wirts, ohne Worte zu verstehen. Glas splitterte. Kurz darauf flog ein Stuhl durch die offene Eingangstür auf den Gehsteig. Zur einzelnen Stimme des Wirts gesellten sich weitere. Zornige Laute mischten sich unter dumpfe Schlaggeräusche.
Mit raschen Bewegungen tippte der Junge einen Notruf in sein Handy. Es dauerte einen Moment, dann gab er die Adresse durch. Noch bevor die Polizei eintraf, sah er die Schläger wieder aus dem Lokal kommen. Überraschend hob der letzte den Kopf und sein Blick fiel auf ihn. Ein Funke des Erkennens flammte zwischen ihnen auf, bevor der Skin zu seinen Kameraden aufschloss. Wie unter Zwang folgte der Junge ihnen mit den Augen, als sie ohne Eile die Straße überquerten. Ihre Tritte zerteilten die Nacht in exakt gleich lange Abschnitte. Bei der U-Bahn-Station hielten sie an. Die plötzliche Stille wirkte, als wäre eine Uhr stehen geblieben.
Der stumme Beobachter stand immer noch am Fenster, als das Blaulicht der anrückenden Polizeiwagen über die Hauswände glitt und sich in den Wasserpfützen vervielfältigte. Erst als er seinen Vater unverletzt aus dem Lokal kommen sah, löste er sich vom Fensterrahmen und trat ins Dunkel des Zimmers zurück.
1
Marijana lag bäuchlings auf ihrem Bett. Vor sich hatte sie einen uralten Laptop aufgeklappt liegen, den sie über eBay ersteigert hatte, und neben sich eine angefangene Tafel Milchschokolade mit ganzen Nüssen. Es knackte leise, und kleine Schokosplitter spritzten zur Seite, als sie eine neue Rippe abbrach. Während sie sich das Stück in den Mund schob, flogen ihre Augen über die Internetseite, auf der sie gerade für ihr Referat recherchierte.
Die Auswirkungen des Balkankriegs auf die Zuwanderungspolitik in Österreich.
Herr Nemetz hatte sie mit seinen durchdringenden hellblauen Augen fixiert. »Das hört sich an wie dein Thema, Fräulein Catic.« Er presste die Worte zwischen einem schmallippigen Lächeln hervor, als würde er ausspucken, sodass Marijana automatisch den Kopf einzog.
Sie seufzte resigniert und kopierte ein paar Fakten aus einem Gesetzestext, den sie gerade gefunden hatte.
Warum immer ich?
Unwillig drehte sie den Kopf, als es leise klopfte. Die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich aber sofort, als Ivos Gesicht im Türspalt auftauchte.
»Darf ich zu dir ins Bett?«
Bereitwillig rutschte Marijana ein Stück zur Wand und klopfte mit der flachen Hand einladend auf den frei geräumten Platz.
»Hast du schon wieder schlecht geträumt?«
Sie hatte gar nicht bemerkt, wie spät es bereits war, so sehr war sie in ihre Arbeit vertieft gewesen. Als sie aber Ivos kopfpolsterzerknittertes Gesicht sah, wurde ihr klar, dass er schon geschlafen haben musste. Auf dem Display des Radioweckers leuchtete ihr rot 0:37 entgegen.
Ivo schlüpfte neben ihr unter die Decke und bettete den Kopf in seine Armbeuge. Marijana lächelte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Seine Haut fühlte sich heiß an. Prüfend legte sie ihm die Hand auf die Stirn. Nein. Zum Glück kein Fieber.
»Hast du noch etwas davon übrig?« Ivo hielt ihr auf der flachen Hand ein paar braune Krümel unter die Nase, die er von ihrem Leintuch geklaubt hatte. »Sicher! Aber nur, wenn du Mama nicht petzt, dass ich im Bett Schoko esse.«
Die Geschwister grinsten einander an, und Ivo griff nach dem Stück, das Marijana ihm hinstreckte.
Eine Weile lagen sie wieder stumm nebeneinander. Weil Ivo nichts mehr sagte, sondern lediglich Kaugeräusche von sich gab, wendete Marijana ihre Aufmerksamkeit erneut dem Projekt zu. Aber mit ihren Gedanken war sie nicht mehr bei der Sache. Ein Teil von ihr horchte darauf, dass ihr Bruder von seinem Traum erzählen würde.
Als er schließlich zu sprechen anfing, kamen seine Worte zögernd. Bei der ersten Erwähnung der Schlangen versteifte sich Marijanas Rücken. Das Zittern aus Ivos Stimme floss über ihre Hand, die auf seinem Arm lag, in ihren Körper. Sie spürte, wie eine Welle aus Angst und Ekel die Schoko vom Magen in die Kehle hochdrückte.
Gewaltsam riss sie sich von dem Bild los, das die Fantasie ihr vorspiegelte. Sie lag zu Hause in ihrem Bett! Es gab hier keine Schlangen, die an ihr hochkrochen und sie langsam erstickten! Marijana setzte sich mit einem
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