Ins dunkle Herz Afrikas
redete.
Glücklicherweise war diese praktisch veranlagt. Sie nötigte Henrietta, sich in die Schubkarre zu setzen, und karrte sie so ins Wohnzimmer zum Telefon, lan kam sofort nach Hause und fuhr sie zu ihrem Orthopäden. »Lassen Sie sich eine Überweisung ins Krankenhaus geben«, wies dieser sie nach einer kurzen Untersuchung an. »Was Sie hatten, war eine Gelenksperre, das sieht nach einer Gelenkmaus und einem bösen Knorpelschaden aus.«
»Das sollte dir eigentlich etwas sagen«, knurrte lan liebevoll, als sie aus der Narkose aufwachte, das Knie hochgelegt, der Tropf noch in ihrer Armbeuge,
»du musst Südafrika endlich aus deinem System kriegen, so geht das nicht weiter.«
In den langen Wochen, in denen sie sich nur auf Krücken bewegen konnte, dachte sie viele Stunden darüber nach. Er hatte Recht, so ging es wirklich nicht weiter.
»Erinnerst du dich an Luises Geschichten?«, fragte sie ihn, als sie an einem der seltenen warmen Sommerabende auf der Terrasse lag, die Krücken standen an ihren Liegestuhl gelehnt. »Sie erzählten von einem Afrika, das es nie so gegeben haben kann, und ich hatte angefangen, von dem Afrika, wie ich es kenne, zu schreiben. - Wusstest du das?«
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Er hatte die Zeitung sinken lassen, sagte jedoch nichts, sondern sah sie nur unverwandt an mit seinen tiefblauen, behexenden Augen. »Es hat mir damals das Herz zerrissen, es war zu kurz nach dieser Reise Weihnachten 1989, als sie uns bei der Einreise ...« Sie stoppte, schluckte den Rest, war still für einen Moment, ehe sie fortfuhr. »Ich konnte einfach nicht weiterschreiben. Ich hab Luises Hefte und meine Geschichten verbrannt. Heute wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Zumindest für die Kinder hätte ich sie behalten sollen.« lan lachte sein leises Lachen, tief in seiner Kehle, bei dem sie noch immer ein Schauer überlief, und stand auf. »Ich komme gleich wieder«, sagte er und verschwand im Haus. Als er zurückkam, hatte er einen dicken Umschlag in der Hand. Er legte ihn auf ihren Schoß. »Als ich merkte, dass du immer unglücklicher wurdest, habe ich geahnt, was du machen würdest, ich kenne dich und deine radikalen Befreiungsschläge gut genug. Ich habe die Geschichten heimlich fotokopiert. Hier sind sie, vollständig.«
Sie hatte mit Tränen in den Augen ihre Notizen fast durchgelesen, als spätabends das Telefon klingelte und Julia aus Südafrika anrief. »Wir kriegen unser Zweites!«, rief sie, und Henrietta hörte deutlich, dass sie mit den Tränen kämpfte, denn sie hatte fast die Hoffnung auf ein zweites Baby aufgegeben. »Wenn es drei Monate alt ist, werden wir euch besuchen«, versprach sie, »drückt uns die Daumen, dass es ein Junge wird.«
Sie saßen noch lange auf der Terrasse und riefen sich gerührt die Kindheit ihrer Zwillinge in Erinnerung, wie Eltern das tun, wenn sie Groß eitern werden.
Keiner von beiden gestand dem anderen ein, wie sehr es schmerzte, in dieser Zeit nicht bei ihrem Kind sein zu können.
Ganz vorsichtig näherte Henrietta sich ihren Geschichten, zuckte manches Mal vor Erinnerungen zurück, verlor sich an anderen Tagen völlig in diesem anderen Leben. Außer lan wusste niemand, dass sie
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schrieb. Fragen, warum sie sich so wenig blicken ließ, wehrte sie mit der Erklärung ab, dass sie lan Büroarbeit abnehmen würde. Nach hundertfünfzig Seiten stellte sie fest, dass es der falsche Weg war, Südafrika aus ihrem System zu entfernen. Ganz im Gegenteil. Es machte ihr Heimweh nur noch schlimmer. Gerade wollte sie ihre Schreibmaschine wieder wegstellen, lan eröffnen, dass sie es doch noch nicht ertragen könne, dass es immer noch zu früh war, da erreichte sie Ende November ein Telefonanruf von Julia, die ihr heulend erzählte, dass sie gestürzt war und sich ein Bein gebrochen hatte, vier Wochen vor der Entbindung.
»Karsten muss für zwei Wochen nach Kapstadt, er kann seine Zusage nicht rückgängig machen, es hängt zu viel davon ab. Ich wünschte, ihr wärt hier, ich bin ganz allein!«, rief sie in tragischem Ton.
»Wir kommen«, sagte lan, und Henrietta setzte das Herz aus. Postwendend schrieb er an die neue Regierung. Er schrieb, wer er war, berichtete ihnen von dem Unfall ihrer Tochter und bat um Erklärung, was gegen sie vorlag, warum ihnen die Einreise nach Südafrika verwehrt wurde.
Die Antwort kam ein paar Wochen später. Henrietta konnte den Brief, als sie den Absender las, nicht öffnen. Zu groß war ihre Angst, etwas lesen zu müssen, was mehr wäre, als sie
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