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Ins dunkle Herz Afrikas

Titel: Ins dunkle Herz Afrikas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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Tiefe.
    Sie starrte Mary in die Augen, und der Geruch von gebratenem Fleisch füllte ihre Nase. Langsam streckte sie ihre Hand aus, sich sehr bewusst, dass es nur eines kleine Stoßes bedurfte, und sie wäre
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    für immer von Mary befreit. Es wäre ein Unfall, versuchte sie sich zu überzeugen, eine Ungeschicklichkeit. Sie brauchte nur ein wenig an dem Ast zu rütteln, an dem Mary hing, die Rinde war vom Regen glitschig geworden, Mary würde sich nicht halten können. Aber dann brachte sie es einfach nicht fertig.
    Stattdessen ließ sie den Baum los und streckte Mary ihre Hand entgegen.
    »Udadewethu«, Sarahs sanfte Stimme erreichte sie. »Mary ist meine Schwester.
    Ich habe die Verantwortung. Lass mich das machen.« Sie zog Henrietta mit ihrer gesunden Hand hoch und weg von der Steilkante.
    Da bemerkte Henrietta das grasgrüne Chamäleon, das sie auf dem Korallenstrauch gesehen hatte, auf Sarahs Handrücken. Mit grimmiger Miene, den Blick nach innen gekehrt, ärgerte Sarah das Tier mit einem Stöckchen, bis es sich groß machte und wütend zischend orangefarbene Streifen zeigte. Sie trat an die Kante, spähte hinunter. Zu spät erkannte Henrietta, was Sarah vorhatte, und erschrak zutiefst. Das Chamäleon, der Todesbote der Zulus! Wem es erschien, musste sterben.
    Vor vielen Jahren waren Sarah selbst und Joshua, ihr Gärtner, ein Berg von einem Mann mit der Ängstlichkeit einer Haselmaus, schreiend mit allen Anzeichen blinder Panik geflüchtet, als sie ihnen das kleine Reptil zeigte.
    Was musste es Sarah kosten, es jetzt auf der Hand zu tragen? Welche Konsequenzen drohten ihr in der Vorstellung ihrer mythischen Welt?
    Impulsiv griff sie nach dem Chamäleon, wollte es Sarah wegnehmen, doch dann, und diesen Moment verschloss sie für immer in ihrem Inneren, ließ sie ihre Hand sinken, trat zurück und ließ geschehen, was geschehen musste. Es ging sehr schnell.
    Sarah kletterte hinunter. Henrietta hörte Mary etwas schreien, verstand aber die Worte nicht, dann stieg Marys Schrei an zu einem schrillen Crescendo, das Chamäleon fauchte Furcht erregend, die Zweige des Baumes, von ihrer Last befreit, schlugen hoch, und dann war Stille. Nur das Rauschen des Regens erfüllte die Luft.
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    Sarah kroch zurück, richtete sich auf und stand einen Moment lauschend. »Es ist vorüber. Das alte Krokodil ist in den Fluss zurückgekehrt und hat sie gefunden«, sagte sie, »ihr Zuluname war Non-hlanhla, die Glückliche, aber die Ahnen waren zornig mit ihr ...« Darauf verstummte sie und zog sich hinter ihre Augen zurück, aus denen alles Leben zu weichen schien, bis sie groß und leer und ohne Fokus waren.
    Henrietta glaubte, in die Augen einer Sterbenden zu sehen, und streckte in plötzlicher Vorahnung die Hand nach ihr aus, aber Sarah war verschwunden, die Verbindung zu ihrer schwarzen Schwester war abgebrochen.
    Wie in Trance, mit zeitlupenlangsamen Bewegungen brach die Zulu ein Stück des Büffeldornbaums, des Umlahlankosi, ab. »Ich werde den Schwalben folgen und in die Berge verschwinden. Es sollte so sein.« Ihre Worte kamen von weit her, Henrietta hatte Mühe, sie zu verstehen. Sarah wandte sich zum Gehen, trug mit dem grünblättrigen Zweig die Seele ihrer Schwester Mary heim, wie das ihre Vorfahren erwarteten.
    Einmal noch drehte sie sich um, der Regen ertränkte ihre Worte. »Sala gahle«, verstand sie nur. Sie sah ihr nach. Schwerfällig setzte Sarah im knöcheltiefen Schlamm einen Fuß vor den anderen, warf keinen Blick mehr zurück, und in diesem Augenblick überfiel sie die Gewissheit, dass sie ihre schwarze Schwester nie wieder sehen würde. »Sarah!«, rief sie, aber diese schien sie nicht zu hören. Minuten später verschwand Sarah, den Arm um Twani gelegt, hinter dem silbrigen Regentropfenvorhang.
    Es war, als würde ein Stück aus ihr herausgerissen. Henrietta stand da, aus vielen Kratzern blutend, bis zu den Knien im Schlamm, zutiefst erschöpft, und durchlebte einen der schmerzhaftesten Augenblicke ihres Lebens. Es war nicht, was Sarah gesagt hatte, sie wusste nicht, was die Worte bedeuteten, sie erkannte nur die Endgültigkeit in ihrem Ton. Als wäre alles gesagt und getan, und nichts blieb mehr. »Ich hasse Afrika«, weinte sie innerlich, »verdammt, ich hasse Afrika.« Als sie ein Jucken auf ihrem Arm spürte und eine große Mü-
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    cke mit hochgestreckten Hinterbeinen entdeckte, die schon ganz geschwollen war von ihrem Blut, drehte sie fast durch. Eine Malariamücke! Am helllichten Tag.
    Sie schrie,

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