Reinheit: Chronik der Freiheit - Band I (German Edition)
Diese Welt ist grausam.
Es gibt keine Hoffnung und wenn es sie doch gibt, dann weiß ich nicht, wo sie sich befindet. Vielleicht haben sie nur die Reichen? Vielleicht haben sie nur die Herrscher dieser Welt?
Ich weiß es nicht.
Immer wenn ich aus dem Fenster sehe, dann s ehe ich den grauen Himmel, die schweren Wolken. Niemals hatte ich eine Möglichkeit die Sonne sehen zu können. Für mich war sie verschwunden.
Ein kaum definierbarer Gestank lag Tag und Nacht in der Luft. Dieser Gestank brennt sich in das Gedächtnis und man hat das Gefühl, dass er einen überall hin folgt, dass er an einem selbst haftet. Man identifiziert sich mit ihm. Irgendwann, so glaube ich, wird man der Gestank.
„Alle runter auf den Boden und niemand bewegt sich!“, schrie der schwer bewaffnete Mann. Seine Kameraden zielten uns auf. Wir kauerten am Boden, konnten nur abwarten.
Selbst wenn jemand den Mut hätte aufbringen können, nach oben zu sehen, so hätte niemand ihre Gesichter erkennen können. Sie trugen mer kwürdige Masken.
Einer der Männer hockte direkt über mir und ich spürte den Lauf seines Gewehres im Rücken. Es war kalt. Ich trug nur einen dünnen Lumpen.
„Durchsucht die Zimmer!“, befahl der Mann seinen Kameraden. Er hatte eine raue Stimme und war sicher ihr Anführer.
Meine Mutter, sie lag neben mir am Boden, weinte und atmete schwer. Die Situation war zu viel für sie und ich blickte fortwährend in ihre weit aufgerissenen Augen. Augen, die so manchen Schrecken mit ansehen mussten. Augen, die scheinbar nicht mehr in der Lage waren, die eigene Tochter zu erkennen.
Ich versuchte ihre Hand zu erreichen, sie zu ha lten, ihr Trost zu spenden, ihr klar zu machen, dass diese Situation nicht ewig andauern würde. Doch der Mann, der noch immer über mir kauerte und wie eine tollwütige Bestie lauerte, kam mir zuvor. Er trat mit seinen schwarzen Stiefeln auf meine Hand. Ein widerliches Geräusch folgte.
Ich biss mir auf die Zunge und versuchte so den Schmerz und den Schrei zu unterdrücken. In wen igen Minuten füllte sich mein Mund mit Blut. Ich hatte wirklich in meine Zunge gebissen.
Meine Hand spürte ich nicht mehr. Sie war vie lleicht gebrochen und unbrauchbar.
Ein lautes Rumpeln hallte durch unsere kleine Wohnung. Die anderen Männer warfen unsere wenigen Möbel um, zertrümmerten unsere Schränke, rissen die Lampen von der Decke. Bei all dem lachten sie noch.
Mein Bruder lag direkt vor mir. Er sah mir tief in die Augen und ohne dass er etwas sagen musste, wusste ich, dass er gleich einen schweren Fehler begehen würde. Ich konnte ihn nicht davon abhalten. Ich konnte nur zusehen.
Es waren nur wenige Minuten.
Der Mann, der offenbar hier die Befehle gab, hatte seinen schwarzen Stiefel auf den Rücken meines Bruders gestellt. So stand er einem König gleich da, der Land für sich beanspruchte.
Doch mein Bruder duldet keine Könige.
Er drückte plötzlich seinen Oberkörper nach oben und zwinkerte mir dabei zu. Meine Mutter kauerte noch immer paralysiert am Boden.
Der Anführer war sichtlich erschrocken, ließ sein Gewehr fallen und fiel selbst nach hinten. Mit se inem Kopf knallte er gegen die Wand. Er schien bewusstlos zu sein.
Der andere Mann, der seinen Lauf in meinen R ücken drückte, erschrak ebenfalls und versuchte, schnellstmöglich das Gewehr nach oben zu ziehen und auf meinen Bruder zu schießen.
Er jedoch blieb weiterhin am Boden, schnappte nach dem Gewehr und legte es an.
„Was soll das werden?“, fragte der Mann in einem bemüht ruhigen Ton, die Waffe hatte er halb in Anschlag bringen können.
Mein Bruder lächelte mich an. Er war sich seines Sieges gewiss.
„Möchtest du dich wirklich der Staatsmacht widersetzen? Dir scheint nicht ganz klar zu sein, welche Strafe dich erwartet, oder?“
Die Stimme dieses Mannes war verräterisch. R uhig, aber dennoch kurz vor der Explosion.
Wie ein richtiger Soldat stand mein Bruder auf, dabei zielte er immerzu auf den Mann, er ließ ihn nicht aus den Augen. Zuerst ging er in die Knie und dann drückte er seinen Körper langsam nach oben. Er rechnete immer mit einem Angriff.
Die Geräusche im Hintergrund schienen sich zu verstärken. Aber jetzt klang es nach zerschellendem Porzellan. Sie zerstörten alles.
„Noch hast du eine Chance, die Waffe niederz ulegen, Kleiner“, erklärte der Mann nervös. Scheinbar hatte sich die Situation in seinen Augen zugunsten meines Bruders verändert.
Seine Kameraden waren so
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