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Ins dunkle Herz Afrikas

Titel: Ins dunkle Herz Afrikas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gercke
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die lachenden, schubsenden Kinder und folgte seinem Blick, der auf einen Fleck etwa zwei Meter vor ihm gerichtet war. Das Gras war nur zwei Zentimeter hoch, nicht einmal ein Floh konnte sich dort verstecken. Was aber ängstigte den Jungen derart?
    Jonny sog gurgelnd Luft in seine Lunge, und dann explodierte ein Schrei aus seiner Kehle, dünn und hoch und so scharf, dass er das Stimmengewirr der Kinder durchschnitt. Schlagartig herrschte Stille. Sie sprang zu ihm und riss ihn in ihre Arme, versuchte den strampelnden, kleinen Körper ruhig zu halten.
    Seine innere Versteinerung löste sich in hemmungslosem Schluchzen. Nur ein Wort keuchte er, monoton wie eine hängen gebliebene Schallplatte: »Bombe, Bombe, Bombe!« Sein zitternder Finger zeigte auf einen Schulranzen, der zwei Meter vor ihm auf dem Boden stand. Ein ganz normaler Ranzen, braunes Leder, glänzend und verfleckt durch jahrelanges Tragen, Laschen geschlossen, einen Aufkleber vom Natal-Löwen-Park in der oberen linken Ecke. Nichts weiter als ein ganz normaler Schulranzen.
    »Jonny, was ist? Da steht nur ein Schulranzen.« Sie machte zwei Schritte vorwärts und bückte sich, um ihn aufzuheben. Jonny schrie gellend, stürzte sich auf sie, trat sie mit Füßen. Er schien wahnsinnig vor Angst zu sein. Die anderen Kinder hatten sich in kleinen Gruppen zurückgezogen, unruhig untereinander flüsternd. Das schmale, blonde Mädchen, das sich durch den Pulk der Schüler drängte, war ungefähr zwölf Jahren alt und sah Jonny ausgesprochen ähnlich. »Ich bin Jonnys ältere Schwester«, sagte sie und nahm ihn in die Arme. »Ist ja gut, Jonny.« Ihre Stimme war leise und beruhigend. »Es ist in Ordnung, es nur ein Schulranzen.« Über seinen blonden Kopf sah sie Henrietta an. »Wir haben in Rhodesien gelernt, jeden
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    herumstehenden Ranzen als Bombe zu betrachten«, sagte sie zu ihr. »Sein Freund hat einen aufgehoben und ist in Stücke gerissen worden.« Sie sagte dies ohne Gemütsregung, ganz sachlich, als würde sie etwas Übliches, ein tägliches Vorkommnis erklären. Sie fröstelte. Kein Mensch sollte derartiges Wissen haben, und ein Kind von zwölf sollte von den Wundern des Lebens träumen, es sollte nicht wissen, dass es Menschen gibt, die eine Bombe in einem Schulranzen verstecken und den Zeitzünder so setzen, dass die Bombe mitten in einem Haufen lachender, spielender Kinder detoniert. Ihr Atem kratzte in der Kehle, als sei ihr Hals plötzlich zu eng geworden, aber sie wehrte sich gegen die Bilder, die sich ihr aufdrängten. Nein, dachte sie, das hat nichts mit meinem Afrika zu tun, und die Sache mit Jonnys Freund war in Rhodesien passiert, weit weg. Nicht hier.
    Energisch wandte sie sich Jonny und seiner Schwester zu, beruhigte sie und brachte sie nach Hause. Es ging dem Jungen bald besser, und der Vorfall wurde allmählich unter den vielen kleinen Alltagsereignissen des täglichen Lebens vergraben und geriet in Vergessenheit. Henrietta verstand auch diese Warnung nicht. Die Sonne schien in ihrem blühenden Paradies, Afrika breitete seinen Zauber wie ein goldschimmerndes Netz über sie aus und hielt sie gefangen. Es wurde die schönste Zeit ihres Lebens.
    In der Palmgrove Boy's High School, die Jan seit eineinhalb Jahren besuchte -
    Julia ging in eine Mädchenschule -, fanden im Winter 1978 immer häufiger vor Unterrichtsbeginn Gedenkfeiern statt für einen Ehemaligen der Schule, der an der Grenze gefallen war. Offiziell starben alle bei einem Unfall mit einer Schusswaffe, diese naiven, Kampflieder brüllenden jungen Männer, diese großen Kinder, die begeistert an die Grenze eilten, um ihr Land gegen die schwarzen Horden zu verteidigen. Das Wort Krieg war tabu, keiner wagte es in den Mund zu nehmen, keine Zeitung durfte es schreiben.
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    »Montags macht Zitronengesicht jetzt Gott sei Dank eine kollektive Gedenkfeier«, quetschte Jan an einem Samstagmorgen beim Frühstück auf der Terrasse zwischen zwei Bissen heraus, »sozusagen Sammelfeiern, alle Toten einer Woche in einem Abwasch, wurde auch ein bisschen nervig«, stöhnte er,
    »jeden Morgen diese Trauerreden ...« Er kippte seinen Kakao hinunter und zog sich einen alten Pullover über. »Ich geh angeln.« Es war ein sehr milder Wintertag, kaum Wind, und das Meer war friedlich.
    »Lass mich Derartiges nicht noch einmal hören!«, brüllte lan hinter ihm her,
    »außerdem sollst du Mr. Sticklewood nicht Zitronengesicht nennen, er ist schließlich euer Rektor!«
    »Wir sind sicher«, murmelte sie im

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