Ins Eis: Roman (German Edition)
einzusammeln. Jonas’ Füße stießen erneut gegen den Vordersitz, Kirsten bat ihn halbherzig, das zu unterlassen. Um ihn abzulenken, reichte sie ihm seinen kleinen Lerncomputer.
»Darf ich fragen, weshalb Sie jetzt nach Spitzbergen fliegen?«, fragte der Herr nach einiger Zeit. Sie hatten die Reisehöhe verlassen; bis zur Zwischenlandung in Tromsø würde es nicht mehr lange dauern. Die Passagiere wurden aufgefordert, sich anzuschnallen. »Ich meine, was bringt Sie jetzt im Winter dazu, den Ort aufzusuchen, an dem dieses tragische Unglück geschah?«
»Mein Schwiegervater feiert seinen Geburtstag auf Spitzbergen. Er und mein Mann hatten das lange vorbereitet, und mein Schwiegervater möchte natürlich gerne seinen Enkel bei sich haben.«
»Verständlich. Trotzdem, verzeihen Sie meine Neugierde: Macht Ihnen das nichts aus?«
»Nein«, Kirsten blickte über Jonas’ Scheitel hinweg aus dem Fenster, »im Gegenteil, ich wollte es so.«
Kristoffer war ein erfahrener Alpinist gewesen. Es fiel ihr schwer sich vorzustellen, dass er an so etwas Banalem wie Unterkühlung hatte sterben müssen; immerhin war es August gewesen, kein arktischer Winter. In der ersten Zeit nach Kristoffers Tod waren alle noch genauso ungläubig gewesen wie sie. Doch dann, nach der Beerdigung, nach den Besuchen bei Versicherungen und Behörden, nach etlichen Wochen der gerne zitierten »Anpassung an die Umstände«, hatte sich der Tonfall geändert. Sie solle Kristoffers Tod akzeptieren, hatte es seitdem geheißen, es sei eben ein tragischer Unfall gewesen, daran ließe sich nichts ändern. Es brachte doch nichts, über diesen fernen Flecken Land nachzugrübeln, in Spitzbergen seien schon viele Reisende erfroren. Kirsten jedoch blieb bei ihrem Wie und Warum. Sie verstand Kristoffers Tod nicht. Wie konnte sie ihn denn auch verstehen, auf einer Couch in Mitteleuropa sitzend, unter der die Fußbodenheizung die Zehen wärmte, während die Zeitungen über Klimaerwärmung schrieben?
»Dann kennen Sie also Spitzbergen?«
»Nein, mein Mann ist immer ohne uns dorthin gefahren.«
»Wollten Sie ihn nicht begleiten?«
»Es waren sich immer alle einig, dass Spitzbergen kein Ort für Mütter und kleine Kinder wäre.«
»So denken die meisten in Deutschland, nehme ich an.«
»Mag sein, aber mein Schwiegervater ist der Meinung, an seinem Geburtstag gehört die Familie zusammen.«
»Und nach dem Unglück hat er es sich nicht anders überlegt und die Feier abgesagt?«
»Das hätte den Tod meines Mannes doch nur noch sinnloser erscheinen lassen«, entgegnete Kirsten müde und so leise, dass ihr Gesprächspartner sich ein wenig zu ihr hinneigen musste, um sie zu verstehen. Sie schätzte ihn auf Mitte fünfzig, sein Atem roch leicht nach Kaffee.
»Mein Mann war im August nach Spitzbergen geflogen, um das Geburtstagsprogramm vorzubereiten. Er hätte bestimmt nicht gewollt, dass alles abgeblasen wird. Es ist das erste Mal seit dreißig Jahren, dass mein Schwiegervater nach Spitzbergen zurückkehrt. Er wird fünfundsiebzig.«
»Dann hat Ihr Mann seine Faszination für Spitzbergen wohl von seinem Vater geerbt?«
»Geerbt würde ich nicht sagen. Er hat Spitzbergen eher später im Leben …« – Kirsten suchte nach einem passenden Ausdruck –, »nun, er hat es sich irgendwann eigenständig angeeignet.«
»Wie das manchmal so ist zwischen Vätern und Söhnen.«
Sie musste lächeln, was ihr eine unverhohlene Musterung durch ihren Nachbarn eintrug. »Haben Sie sich die Haare nach dem Tod Ihres Mannes abgeschnitten?«
Verblüfft zuckten Kirstens Finger zu ihrem Ohr. Ihre knapp kinnlangen Haare fielen in einem sanften Bogen, unterhalb des Ohrläppchens wölbten sich die Spitzen leicht nach vorne. Sie trug einen Pagenschnitt, seit sie dreiundzwanzig war.
»Verzeihen Sie die Frage, es war nur so ein Gedanke. Es steht Ihnen sehr gut. Tut mir leid, wenn ich indiskret war.«
»Was treibt Sie denn nach Spitzbergen?«, wechselte Kirsten das Thema.
»Gar nichts. Ich steige in Tromsø aus. Ich bin Meeresbiologe und deswegen regelmäßig hier oben.«
Der Flieger legte sich in eine Linkskurve. Kirsten lehnte sich über Jonas und blickte auf das tiefe Blau eines norwegischen Fjords, das an einer Stelle ins Türkise wechselte. Sie wunderte sich über das leuchtende Blaugrün, eine Farbe, die man eher in südlichen Meeren erwartet hätte, dort, wo Riffe wuchsen. Ihr Sitznachbar lachte, als sie den Gedanken aussprach.
»Sie unterschätzen die kalten Meere, meine Liebe.
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