Ins Eis: Roman (German Edition)
einen in den Permafrost gebauten Kältetresor für Saatgut aus der ganzen Welt, oberhalb des Flughafens hin und nannte einzelne Berge bei ihren Namen. In just diesen Tagen, erzählte er, schaffe es die Sonne zum ersten Mal über den Horizont. Zwar erreichten ihre Strahlen nicht vor dem achten März den Talgrund oder die Stadt, doch tauchten sie die Berggipfel bereits für mehrere Stunden am Tag in ein liebliches Rosa. Ein besonderes Licht, Kirsten würde es lieben. Kurz darauf bremste er ab. Vor ihnen am Straßenrand stand das berühmteste Verkehrszeichen Spitzbergens: ein rotes Dreieck mit einem Eisbären auf schwarzem Grund, dazu der Text: Gjelder hele Svalbard – gilt überall auf Svalbard . Fredrik knipste ein Foto mit Jonas vor dem Eisbären-Warnschild.
»Der Junge sieht genauso aus wie Kristoffer in dem Alter«, sagte er leise, um dann strenger hinzuzufügen: »Jedenfalls bis auf diese unmögliche Frisur. Man sieht ja nicht einmal mehr die Ohren unter all dem Kraut. Meinst du nicht, du solltest diese Woche noch mit ihm zum Friseur?«
Jonas legte den Kopf in den Nacken und sah ängstlich zu seiner Mutter auf. Kirsten wuschelte ihm durch die hellbraunen Haare, die über dem Stirnband wild in alle Richtungen ragten. Jonas mit einer Schere zu Leibe zu rücken, war in etwa so schwierig wie das Fangen eines Fischs mit bloßen Händen. »Was meinst du?«, fragte sie. »Willst du dir Opa zuliebe die Haare schneiden?«
Jonas schüttelte sich wortlos, traute sich allerdings nicht, seinem Großvater in die Augen zu sehen.
»Da hast du deine Antwort«, sagte Kirsten, während sie wieder ins Auto stiegen.
»Was Eltern heutzutage alles ihre Kinder entscheiden lassen. Das hat es früher nicht gegeben.«
»Wikingerblut, Fredrik. Wikingerblut und -haare.«
»Zotteln gehören sicherlich nicht zum Erbe der Stolts.«
»Ja, klar. Weil Sturheit an der Kopfhaut endet.« Sie tippte mit ihrem Zeigefinger gegen Fredriks von kurz geschnittenem, dichtem weißen Haar bedeckten Schädel und brachte ihn damit zum Lachen.
Ihr selbst jedoch war nicht zum Lachen zu Mute. Sie dachte an die merkwürdige Begegnung im Flughafengebäude zurück. Von Kälte und Dunkelheit hatte der hünenhafte Mann gesprochen. Eine Anschuldigung hatte in seinen Worten gelegen und ihre Neugierde geweckt.
»Sag mal, was hat dieser Lennart gemeint mit der Kälte und Dunkelheit? Mit dem schlechten Beispiel?«
»Nichts. Er hat nichts damit gemeint.«
»Es klang irgendwie seltsam, wie er es gesagt hat. Warum sollst du feige gewesen sein? Weil du damals aus Spitzbergen weggegangen bist? Für mich klang es, als ob er etwas anderes sagen wollte.«
»Sein Englisch ist so schlecht wie seine Manieren. Vergiss ihn.«
Kirsten blickte aus dem Autofenster. Wenn Fredrik ein Thema für beendet erklärte, hatte Nachbohren wenig Sinn. Aber Neugierde ließ sich von einem Basta nun mal nicht stillen. Was für eine Geschichte verbarg sich wohl dahinter? Fredrik hatte stets den Eindruck erweckt, alle Rechnungen in Svalbard beglichen zu haben, als er fortgegangen war. Was nicht bedeuten musste, dass andere das auch so sahen; immerhin war Fredrik ein Meister darin, sich jeglichen Gepäcks zu entledigen. Eine Eigenschaft, die einst zur Entfremdung von seinen beiden Söhnen, von Erland, aber vor allem von Kristoffer, beigetragen hatte. »Er will einen gar nicht beherrschen. Er bestimmt einfach über einen hinweg, als ob Newton ein Naturgesetz direkt für ihn formuliert hätte«, hatte Kristoffer einmal über seinen Vater gesagt, ohne große Bitterkeit, nur voller Erstaunen über diesen Mann, der seine Söhne einst aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen hatte und mit ihnen nach Deutschland gegangen war, ohne sie auch nur zu fragen, was sie darüber dachten. Damals hatte Fredrik von einem Tag zum nächsten aufgehört, mit Kristoffer und Erland Norwegisch zu sprechen, sie sollten die neue Sprache so rasch wie möglich lernen. Das Internat war am Ende ihre eigene Idee gewesen, die Rettung vor der offenen, zum Scheitern verdammten Rebellion. Sie waren Teenager gewesen, an der Grenze zum Erwachsensein. Teenager wollten gefragt werden. Sie mochten es nicht, ihre Geschichte zu verlieren. Sie hatten zu wenig davon.
Einige Sekunden lang herrschte im Auto Stille, bis Jonas aufgeregt die Hände gegen das Autofenster klatschte: »Da sind Motorräder!«
»Das sind keine Motorräder, Jonas«, verbesserte Fredrik, »sondern Schneemobile. Spitzbergens wichtigstes Verkehrsmittel im
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