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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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Vor der norwegischen Küste befinden sich riesige Wälder aus Kelp. Das sind meterhoch wachsende Algen. Das Leben brummt überall, man muss sich nur die Mühe machen, es zu finden.«
    Kirsten lauschte den Ausführungen des Biologen, während das Flugzeug immer tiefer ging. Unter ihnen breiteten sich die ersten Straßen und Häuser von Tromsø aus. Gateway to the Arctic nannte sich die Stadt selbst. Das Tor zur Arktis. Nach einer Stunde Aufenthalt würden sie mit demselben Flieger weiter nach Longyearbyen, dem Hauptort auf Spitzbergen, fliegen.
    Jonas wandte Kirsten sein zum Greinen verzogenes Gesicht zu. Einen Moment lang glaubte sie, er hätte ihrem Gespräch gelauscht und plötzlich begriffen, dass sein Vater tot war und was der Tod in seiner Endgültigkeit bedeutete, aber dann war es doch nur der Druckausgleich, der ihm zu schaffen machte, und sie war die nächsten Minuten damit beschäftigt, ihn dazu zu bringen, sich die Nase zuzuhalten und Luft hineinzupressen, bis die Ohren knackten.
    Sie fuhren nach Spitzbergen, um Papa zu finden. Das war Jonas’ Verständnis, in dessen Welt es kein »für immer« gab. Sie hatte Jonas gesagt, sie würden seinen Papa auf Spitzbergen nicht finden, aber dafür vielleicht einen Teil von ihm, der dort geblieben war. Und sobald sie diesen verlorenen Teil fänden, erklärte sie ihm, würde er sie mit nach Hause begleiten.
    Ihre Mutter hatte Kirsten für verrückt erklärt, weil sie Jonas mitnahm. Ein Fünfjähriger auf Spitzbergen, auf einer Inselgruppe zwischen Europäischem Nordmeer und Arktischem Ozean, jenseits des Polarkreises. Näher konnte ein normaler Linienflug-Tourist dem Nordpol gar nicht kommen. Ein Land, zur Hälfte von Eis bedeckt, wo zweitausendfünfhundert Menschen lebten und dreitausend Eisbären. Kirstens Argument, in Longyear-Stadt gebe es immerhin Kindergärten und eine Schule, hatte ihre Mutter nicht gelten lassen. Den armen Jungen in das Land zu bringen, wo sein Vater verunglückt war! Kirsten verstand das Gezeter nicht. Für Jonas, so glaubte sie, wäre es besser, eine Vorstellung von seinem Vater in der schneebedeckten Weite Spitzbergens zu bewahren als im Angesicht des Horrors eines grauen Steins auf einem Friedhof, den sein Vater zu Lebzeiten niemals betreten hatte.
    Unter Kristoffers Sachen im Hotel in Longyear-Stadt hatten sich zwei Tüten mit Kinderwinterkleidung befunden, Ausrüstung für Jonas. Kristoffer musste sie bereits mit Blick auf die Geburtstagsfeierlichkeiten im Februar gekauft haben. Erland, Kirstens Schwager, hatte ihr die Kleidungsstücke mitgebracht, als er nach Kristoffers Tod nach Spitzbergen geflogen war, um die Formalitäten zu erledigen. Mit Ausnahme der Wertsachen hatte Erland die Besitztümer seines Bruders damals zurückgelassen, einzig die Geschenke für Jonas hatte er mitgenommen: eine Hose mit breiten Trägern, einen Daunenparka mit Kapuze, ein Paar speziell gefütterter Stiefel, dazu Schuhe aus Rentierfell, in der Tradition der Samen Lapplands an den Spitzen nach oben gezogen, und eine Mütze mit Kaninchenfell. Kirstens Ausrüstung war bis wenige Tage vor der Abreise im Vergleich dazu eher dürftig gewesen, hatte sie doch ursprünglich geplant, lediglich ihre Skisachen mitzunehmen. Schließlich lag Spitzbergen im Einflussbereich des Golfstroms, der dafür sorgte, dass auf der Inselgruppe längst nicht die dem Breitengrad entsprechenden Tiefsttemperaturen erreicht wurden. Kälter als minus fünfundzwanzig Grad sollte es laut Reiseführer selten werden, das galt selbst für die frostigsten Monate Februar und März. Erst als sie drei Tage vor Abflug auf einer Website las, dass es aktuell in Longyearbyen minus neunundzwanzig Grad kalt war, war sie in den nächsten Outdoorladen gerannt und vier Stunden später mit zwei großen Tüten und um eineinhalbtausend Euro ärmer wieder herausmarschiert. Am Ende hatte es sich ihr Schwiegervater nicht nehmen lassen, ihr die Summe zu erstatten, sosehr sie sich auch dagegen gewehrt hatte.
    Mit Fredrik Stolt diskutierte man höchstens über das Geld anderer Leute, niemals über sein eigenes.
    Kirstens Kinn schwebte ein weiteres Mal über dem Scheitel ihres Sohnes, während sie beide aus dem Fenster auf das Schauspiel zehn Kilometer unter ihnen blickten. Der Flieger war pünktlich in Tromsø abgehoben; der letzte Abschnitt ihrer Reise in die Arktis hatte begonnen. Sie hatten den Punkt überschritten, der auf vielen Weltkarten bereits fehlte – eine bedeutungsvolle Beschränkung, die das

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