Ins Eis: Roman (German Edition)
78° nördliche Breite, 15° östliche Länge:
Kein Gras. Kein Strauch. Kein Laub. Nur Steine und Wasser und Schnee und gefrorene Erde. Und Wind. Vor allem Wind. Die Faust Svalbards. Sie alle sind seine Vollstrecker.
Wieso hat er die Jacke ausgezogen?
Seine rechte Hand ist aufgeschürft. Schneeflocken vermischen sich mit Blut. Er fummelt am Reißverschluss seines Fleecepullovers. Das Stück Stoff am Griff gleitet zwischen den tauben Fingern hindurch. Er zerrt an dem Kleidungsstück, greift erneut nach dem Verschluss am Kragen, aber bekommt ihn nicht zu fassen.
Die Berge beiderseits des Tals, durch das der Sturm Anlauf nimmt, verstecken sich hinter dem wechselhaften Antlitz des arktischen Wetters. Manchmal sieht er auf der einen Seite einen Höhenrücken wie einen gestrandeten Wal aufragen. Er hofft auf einen Überhang, eine Höhle, in der er vielleicht Schutz finden könnte, aber nein: Es gibt keine Höhlen. Nur eine in den Permafrost versenkte Kuhle, in die er sich wie ein Hund einkringeln wird, um warm an Kälte zu sterben.
Ein Schluchzen sitzt ihm in der Kehle. Der Schädel ist nur noch Haut über Knochen, ein nutzloser Kühlturm des Körpers über dem vergebens heizenden Herzen. Der Wind presst die nassen Kleider an die Haut, unter der die Muskeln nicht zu zittern aufhören. Die Böen suchen sich ihren Weg durch den Stoff hindurch, schlagen zu, wo der Kragen zu kurz ist, die Ärmel enden oder der Saum im Stolpern hochrutscht, ein Stück entblößtes Fleisch, das die Erinnerung an das letzte frostige Streicheln bis zum Ende bewahrt.
Er ist so müde. Er wird schlafen, sobald er zu Hause ist.
Er bleibt stehen. Dreht sich um, immer wieder. Er schreit. Ein Schemen bewegt sich im Schneetreiben hinter ihm, oder nicht? Er kneift die Augen zusammen, beugt sich vor, ganz Wachsamkeit. Der Wind schlägt ihm frontal ins Gesicht. Schleim läuft ihm aus der Nase über den Mund. Er will die Finger an die Oberlippe bringen, um ihn fortzuwischen, doch die Hand klatscht in einem trägen Bogen gegen die Wange. Als er versucht, sein Taschentuch aus der Hose zu zerren, nimmt der Wind es ihm fort. Eine Schneeflocke schmilzt auf seinen Wimpern, eine zweite auf den blauen Lippen. Ein Kuss. Freundlicher, bleibender als sein letzter.
Er macht einen Schritt rückwärts, noch einen, stolpert und stürzt auf dem losen Geröll. Wasser rinnt über seine Finger. Sein Oberkörper zittert so stark, dass der Tremor seine Knie ergreift.
Wieso hat er die Jacke ausgezogen? Die Gedanken dehnen sich. Einzelne Wörter verhaken, wiederholen sich, bis er vergisst, was er denken wollte. Was er tun wollte. So viel …
Das Tal entlang, der Wind treibt ihn vorwärts. Das Tal wird ihn nach Hause bringen.
Er rennt davon. Schon seit Stunden rennt er, vielleicht seit Tagen, aber manchmal ist er einfach zu erschöpft, und dann bleibt er stehen. Er wirft einen Blick auf sein Handgelenk. Verwundert starrt er auf das Ziffernblatt, schlägt auf die bedeutungslose Uhr ein, deren Zeiger reglos tanzen. Seine Faust trifft ins Leere. Und der Wind lacht und bedeckt ihn mit Schnee.
Er sieht über die Schulter zurück. Oder nach vorne? Das Treiben verdichtet sich, gräuliches Weiß schließt sich enger um ihn, ein Mantel. Es wird wärmer. Er zittert nicht mehr.
Er stolpert weiter, hinein in das Nichts des keine Vergebung kennenden Endes der Welt.
K irstens Kopf kippte ein Stück zur Seite gegen die kühle Scheibe des Kabinenfensters. Die Vibration des Flugzeugs übertrug sich vom Plexiglas auf ihren Schädel, ein Dröhnen, das sich bis in die Zähne bohrte. Sie zog den Kopf zurück, schob mit der Schulter Jonas’ Jacke, die sie sich für ein Nickerchen schräg in den Nacken gestopft hatte, ein Stück höher und spürte mit geschlossenen Augen den waagrechten Falten auf ihrer Stirn nach. Neben ihr schnatterte ihr Sohn auf seinen Sitznachbarn ein, während seine rastlosen kleinen Füße immer wieder gegen die Rückenlehne des Vordersitzes stießen. Kirsten war es egal; sollte die Frau sich doch beschweren, wenn Jonas’ Tretattacken sie störten.
Es kostete mehr Mühe als gewöhnlich, die Stirn bewusst zu entspannen. Sie hatte wieder von Kristoffers Tod geträumt. Ein kurzes Einnicken bloß, irgendwo über der norwegisch-schwedischen Grenze, und schon hatte sie ihn gesehen, wie er durch Schnee und Wind stolperte, ein dunkler Schatten in heller, sturmdurchtoster Einsamkeit. In ihrem Traum jedoch war er nicht allein gewesen. Sie selbst hatte schräg über ihm
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