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Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
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geschwebt, ein körperloser Geist, so machtlos wie unsichtbar. Trotzdem hatte Kristoffer innegehalten und sich umgedreht. Er hatte gewusst, dass sie da war. Er hatte geschrien, aber der Wind hatte ihren Namen genommen und von seinen Lippen gerissen. Da war er weitergestolpert, mit zähen, schwerfälligen Schritten hinein in die leere, menschenfeindliche Weite Spitzbergens.
    Das Flugzeug begann zu ruckeln. Jonas’ Schnattern verstummte, aber der nette ältere Herr neben ihm beruhigte ihn, solche kleinen Turbulenzen seien völlig normal. Er begann, von einem anderen Flug zu erzählen, bei dem der Sturm den Flieger nicht bloß durchgerüttelt, sondern mit der Hand eines Riesen hin und her geschmettert hatte. Wie ein Tennisschläger einen Ball, und – patsch! – klatschte seine Handfläche gegen die Faust der anderen Hand. Der Fremde war ein guter Erzähler, doch Kirsten hörte nicht weiter zu. Sie war immer noch müde nach der Stop-over-Nacht in einem sterilen Hotel mit viel zu weichen Matratzen am Flughafen von Oslo. Nichts hätte sie lieber getan, als sich dem Schlaf hinzugeben, allerdings lauerte Kristoffers Tod nach wie vor auf der Innenseite ihrer Lider. Erschreckend reale Traumbilder, so dass sie nachts manchmal aufwachte und meinte, vom Heulen des Polarwindes geweckt worden zu sein.
    Abermals ruckelte das Flugzeug, länger diesmal. Das Anschnallzeichen ertönte, gefolgt von einer Durchsage. Sie flogen durch ein Gebiet mit Turbulenzen, die Passagiere sollten sich bitte anschnallen. Es schlossen sich weitere Fluginformationen an. Sie waren von Oslo die Grenze zu Schweden entlang nach Norden geflogen und würden in Kürze nach Westen in Richtung Tromsø schwenken. Die Passagiere auf der rechten Seite konnten unter sich den schwedischen Sarek-Nationalpark liegen sehen. Das Wetter in Tromsø erwartete sie mit Temperaturen um minus vier Grad Celsius.
    Kirsten öffnete die Augen und blinzelte hinab auf die Weite des nördlichen Skandinaviens. Als Jugendliche hatte sie einmal in Lappland Urlaub gemacht und den nördlichen Teil des Kungsleden erwandert, knapp zweihundert Kilometer Fernwanderweg von Abisko nach Kvikkjokk. Das letzte Stück hatte durch den Sarek-Nationalpark geführt, mückenbelastete Wälder nach Tagen baumloser Majestätik. Dort, wo sie jetzt hinflogen, würde es ebenfalls keine Wälder geben. Noch nicht einmal einzelne Bäume, hatte Kristoffer ihr nach seinen Besuchen vorgeschwärmt. Das, was an Gehölzarten wuchs, Zwergbirken, Polarweiden, schmiegte sich an den Boden und wurde nirgends höher als einige Zentimeter. Gräser, Moose und Flechten erkämpften sich ihren Platz in einer Erde, die im kurzen Sommer lediglich an der Oberfläche auftaute; jenseits davon war alles Permafrost, Eis und Stein. Dennoch hatten die Farben dieses Landes Kristoffer in ihren Bann gezogen: die weißen Blüten des Heidekrauts im Sommer, die Blauschattierungen der endlosen Dämmerung, wenn die Mitternachtssonne dem Herbst gewichen war, das Polarlicht klarer Nächte, das Rosa des frühen Lichtwinters. Kirsten hatte seine Fotos gesehen. Sie hatte sogar überlegt, sie als Vorlagen zu nehmen, zu malen, was Kristoffer so gerne beschrieb. Aber es waren nicht ihre Bilder, und sie konnte nichts malen, was sie nicht selbst erlebt hatte.
    »Ich und Mama fahren nach Spitzbergen, um Papa zu finden.«
    Jonas’ Unterhaltung mit seinem Sitznachbarn drang durch die Farben aus Kristoffers Erzählungen. Alles kindliche Selbstverständnis dieser Welt lag in seiner Erklärung. Kirsten zuckte hoch. Jonas’ zusammengeknüllte Jacke rutschte ihr von der Schulter hinab in den Schoß.
    »Willst du ans Fenster, Schatz?«, fragte sie hastig, einer möglichen Nachfrage des Herrn auf dem Gangplatz zuvorkommend. »Schau mal, du kannst richtig weit sehen!«
    Natürlich wollte er. Kirsten schnallte sie beide ab. Zwischen Jonas’ Fingern klebte das Foto seines Vaters. Er musste es aus ihrer Tasche genommen haben, um es dem älteren Herrn zu zeigen. Es war bei Kristoffers vorletzter Reise nach Spitzbergen aufgenommen worden, im Juni, zwei Monate vor seinem Tod. Kristoffer stand auf einem gleißenden Schneefeld vor hellblauem Gletschereis, dahinter ragten die Gipfel der umliegenden Berge in den azurfarbenen Himmel. Ein Gewehr lag neben seinen Füßen, die Gletscherbrille hatte er sich auf die Stirn geschoben, die Funktionsjacke nachlässig geöffnet. Ein Eispickel steckte links von ihm im Schnee; er sah aus wie ein moderner Edmund Hillary. Kristoffer

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