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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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wenn die Mädchen sich betranken. Aber ich selbst hielt es keinen Vormittag ohne Bier aus. Schon gar nicht an diesem Fließband, auf dem sich die hässlichen Krabben im Kreis drehten, sodass einem vom Zugucken schwindlig wurde. Ohne Bier stand ich das keine sechs Stunden lang durch.
    In den ersten Minuten schnürte einem der Gestank im Schuppen den Atem ab. Doch nach einer Weile gewöhnte man sich daran. Nur an dem angeekelten Gesicht meines Vaters, wenn ich nach Hause kam, merkte ich, wie fischig meine Klamotten, meine Haare und meine Hände rochen. Überall saß der Geruch der toten rosa Maden, in jeder Pore.
    Nach wenigen Minuten waren meine Finger taub von der Kälte. Die Krabben wurden in Kisten voller Eis geliefert und sie landeten auch wieder in eisgekühlten Wannen. Ich schaute noch einmal zu Maalia hinüber, aber meine Lust zu flirten hatte plötzlich den Gefrierpunkt erreicht. Mein Blick fiel auf Anga neben mir, der mit seinen Kopfhörern in den Ohren vergessen zu haben schien, wo er sich befand. Sein rundes, glattes Gesicht sah zufrieden aus. Es schien ihn auch nicht zu stören, dass die meistender Truppe nur halb so schnell waren wie er. Am Anfang hatte es mich wahnsinnig gemacht, in welchem Schneckentempo einige der Typen die Krabben pulten. Schließlich wurden wir alle gemeinsam danach bezahlt, wie viele Kilo Krabbenfleisch wir am Ende des Tages fertig hatten. Keine Ahnung, warum Sven uns nicht einzeln abwiegen ließ. Vielleicht war er zu dämlich, so viele verschiedene Löhne auszurechnen. In meinen Augen wäre das viel gerechter gewesen, aber ich war wohl der Einzige, der so dachte.
    »Mach dir bloß keinen Stress«, hatte Aqqaluk gesagt, als ich rumschimpfte, dass das Getrödel einiger Deppen uns den Stundenlohn versaute. »Wir sitzen doch alle in einem Boot. Da bringt es nichts, wenn einer besonders schnell paddelt.«
    Ja, so war es. Ich saß mit Aqqaluk und den anderen in einem Boot, einem schwankenden Riesenkajak, das durch die einsamen grönländischen Fjorde trieb, und niemanden schien es zu interessieren, wohin es fuhr. Alle paddelten ganz gemächlich, nur ich kriegte es nicht hin, mich ihrem Rhythmus anzupassen.

MS Alaska, Südwestküste Grönlands, Sommer 2020
    Jonathan hatte sein Gepäck in der Nähe der Rezeption der Alaska gestapelt, wo auch andere Schiffstouristen ihre Rucksäcke abgestellt hatten. Eine der Attraktionen der Reise war das Angebot, von Nuuk aus die Westküste auf einer Wanderung zu erkunden und erst zur Rückfahrt wieder an Bord zu gehen. Doch nur wenige der Passagiere hatten Lust, die Annehmlichkeiten der Alaska aufzugeben. Es waren kaum mehr als zwanzig Touristen, die sich auf das anstrengende Abenteuer einlassen wollten, und offenbar gehörte auch Shary Enoksen zu ihnen. Mit dem Rucksack auf dem Rücken und in festen Wanderstiefeln stapfte sie auf die Rezeption zu. Als sie Jonathan entdeckte, strahlte sie ihn voller Freude an. Sie stieß mit dem Fuß gegen seinen Rucksack.
    »Wie schön, dass du auch mitkommst.«
    Jonathan seufzte. Schon wieder musste er sie enttäuschen. Es erstaunte ihn, dass es ihm nicht leichtfiel, Shary einfach die Wahrheit zu sagen. Er kannte sie erst seit ein paar Stunden und er hatte eigentlich doch deutlich gemacht, dass er an einer Vertiefung ihrer Bekanntschaft kein Interesse hatte.
    »Ich mache die Wanderung nicht mit«, sagte er.
    »Sind das nicht deine Sachen?«
    »Doch. Ich werde auch von Bord gehen, aber nichtwegen der Wanderung. Ich bleibe in Nuuk, voraussichtlich.«
    »Ist etwas passiert? Was machst du in Nuuk?« Sie spürte offenbar, dass etwas nicht stimmte.
    Jonathan bückte sich zu seiner Reisetasche und schob sie ein paar Zentimeter näher an die Wand. Er schaffte es nicht, sie anzulügen oder mit irgendeiner Geschichte abzuspeisen. Doch noch viel unmöglicher war es, die Wahrheit zu sagen. Eine Wahrheit, die er selbst kaum begriff. »Ich habe Verwandte in Nuuk, die ich besuchen will«, murmelte er, als er sich wieder aufrichtete.
    »Du bist also doch Grönländer, oder?«
    Er zuckte hilflos mit den Schultern und registrierte dankbar, dass sie ihn nicht mehr neugierig musterte. Sie sah durch das Panoramafenster hinaus zur Küste, auf der mittlerweile blühende Wiesen und vereinzelte bunte Häuser zu sehen waren.
    »Für mich ist es auch etwas Besonderes, in Grönland zu sein«, sagte sie. »Meine Eltern stammen aus Sisimiut, aber sie sind nach Kopenhagen gezogen, als ich vier Jahre alt war. Ich kenne das Land nicht, in dem ich

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