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Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
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geboren wurde.« Sie lachte ein kurzes ironisches Lachen. »Und ich werde es auch nie kennenlernen. Das Grönland meiner Eltern gibt es nicht mehr. Sie haben mir diese Reise zum fünfundzwanzigsten Geburtstag geschenkt, damit ich das Eis zu sehen bekomme, bevor es endgültig schmilzt.« Jetzt schaute sie ihm wieder direkt ins Gesicht. »Warum hast du nicht das Flugzeug genommen? Das wäre doch viel billiger gewesen.«
    »Ich weiß. Ich wollte mit der Alaska fahren.«
    »Es ist ein schönes Schiff«, sagte sie, »irgendwie altmodisch, wie aus einer längst vergangenen Zeit.«
    »Ja, wie aus einer vergangenen Zeit.« Jonathan atmete tief ein. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, an Deck zu gehen, frische Luft zu bekommen. »Gehen wir nach draußen?«, fragte er. »Ich möchte die Einfahrt in den Hafen nicht verpassen.« Er legte ihr leicht die Hand auf den Rücken, als sie zur Treppe gingen, die zum Oberdeck führte. Unter dem Stoff ihrer Bluse konnte er die Muskeln ihres Rückens spüren.
    Dann standen sie auf dem Oberdeck inmitten der anderen Passagiere und drückten sich an die Reling. Jonathan starrte zum Land hinüber, als wäre dies nicht eine Ankunft, sondern ein Abschiednehmen, bei dem er sich das Bild vor seinen Augen für immer einprägen wollte. Da lag Nuuk, der Hafen, die Stadt, der Sermitsiaq im Hintergrund, doch nichts glich dem, wie er es in Erinnerung hatte. Alles hatte sich verändert, war nicht mehr am rechten Platz, keine Perspektive vertraut. Ein Memoryspiel, bei dem jemand die Karten vertauscht hatte und nichts mehr zusammenpasste. Die Kaianlagen waren offenbar verlegt worden; die Wohnblocks, die den Ort mit ihrer Hässlichkeit gequält hatten, waren nicht zu sehen, stattdessen streckte ein Wald von Baukränen seine Äste in den Himmel. Das wellenförmige Kulturzentrum, der Stolz aller Fortschrittsgläubigen, duckte sich im Schatten eines türkisgläsernen Hochhauses. Nuuk war größer und bunter geworden, selbst die grauen Felsen schimmerten vielfarbig im Licht der Leuchtreklamen. Oder hatte er den Ort unscheinbarer und öder in Erinnerung, als er tatsächlich gewesen war?
    Jonathan umklammerte das Geländer so fest, als hätte er Angst, über Bord zu gehen. Es war absurd und sentimental, hierherzukommen, vielleicht sogar zerstörerisch, und doch konnte er es kaum erwarten, an Land zu gehen. Am Kai standen Menschen, die der Ankunft des Schiffes zusahen. Er scannte die Gesichter ab, voller Angst und gleichzeitig voll Hoffnung, irgendjemanden zu erkennen.
    »Holen dich deine Verwandten ab?«, fragte Shary. »Wirst du erwartet?«
    Jonathan schüttelte den Kopf. »Nein.« Er lachte kurz und höhnisch auf. »Ganz bestimmt nicht.«
    »Das klingt traurig«, sagte Shary. Wie selbstverständlich legte sie ihm den Arm um die Schultern.
    Jonathan merkte es nicht einmal.

Nuuk, Grönland, Frühjahr 2011
    warum bist du immer so spät dran?
    spät für dich, nicht für mich
    arbeitest du nachtschicht?
    ja. nun würfel endlich
    okay, okay
    läuft gut bei dir
    glück im spiel ... ☺
    –
    was arbeitest du denn?
    Ja, was arbeitete ich eigentlich? Irgendeinen spannenden Job musste ich mir einfallen lassen. Einen, bei dem ich nicht vor zehn Uhr abends zu Hause sein konnte. Obwohl ... ich könnte ja auch vom Büro aus spielen, von einer Werbeagentur oder einer Anwaltskanzlei, dreißigtausend Kronen im Monat ... Ich hatte nur keinen Schimmer, was man in so einem Büro eigentlich machte, und ich wollte es auch nicht wissen. Wie wär’s mit Manager in einer großen Fischverarbeitungsanlage? Jede Menge Überstunden, Zwölf-Stunden-Tag ... Nein. Nur kein Fisch. Lieber Filmvorführer im Kino, die arbeiteten auch immer spät. Aber was Kino anging, war ich auch nicht gerade Fachmann. In ganz Grönland gab es ein einziges Kino.
    Aber warum verriet ich ihm nicht einfach, dass es beimir erst acht Uhr abends war? Warum tat ich so, als ob ich in Deutschland lebte? Wegbeamen geht nicht, Pakku. Ich brauchte ja nur aus dem Fenster zu gucken und die geballte Langeweile von Nuuk breitete sich vor mir aus. Im Vordergrund ein paar bunt gestrichene Holzhäuser, im Hintergrund die hässlichen Plattenbauten, in denen Aqqaluk wohnte, und dazwischen ein paar Straßen, von denen ich jede einzelne schon tausendmal gegangen war. Grönlands Hauptstadt, gerade mal 15 000 Menschen lebten hier. Ingvar hatte recht, es war die kleinste und langweiligste Hauptstadt der Welt.
    Ich stand auf und ließ die Jalousie vor meinem Fenster runter. Jetzt war

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