Ins Nordlicht blicken
zog mir die Kapuze tiefer in die Stirn. Ein grauer, feuchter Dunst hing über Nuuk und es war verdammt kalt. Keine Ahnung, wie die in den Nachrichten darauf kamen, dass der Frühling jedes Jahr früher da war.Als ich noch bei meiner Großmutter lebte, begann der Frühling damit, dass ich kurze Hosen anziehen durfte. Egal, wie oft ich mir die Knie aufschürfte und mir die Beine mit Brennnesseln verbrannte, ich zog erst wieder lange Hosen an, wenn der Herbst kam. Inzwischen hatte ich vergessen, wie sich das anfühlte. Wind, der dir um die nackten Beine streicht. Sonne, die dir auf den Bauch scheint, wenn du im Freibad auf der Wiese liegst. Auf der Luftmatratze über den See treiben und das Wasser schwappt dir über den Rücken.
Ich lief vorbei an Felsen und Geröll und matschigen Pfützen. Steine über Steine, einer grauer als der andere. Nuuk sah immer aus wie eine Baustelle, auf der ein Kieslaster sein Zeug abgeladen hatte. Irgendein Schwachkopf hat mal in die Welt gesetzt, die Inuit hätten hundert Begriffe für Schnee. Bullshit, sie brauchen hundert Wörter für Steine.
Als ich rausgegangen war, hatte ich noch nicht gewusst, wohin ich eigentlich wollte. Aber jetzt steuerte ich tatsächlich auf die Wohnblocks zu, in denen Aqqaluk mit seiner Familie wohnte. Fast alle, die bei Sven arbeiteten, lebten dort. Aqqaluk, Anga, Signe. Und Maalia. Wie dunkle Mauern hoben sich die Blocks gegen den Nachthimmel ab. Anga hatte mal gesagt, dass er sich wirklich fühlt, als wäre er eingemauert in diesen Wohnsilos. Weggesperrt vom richtigen Leben. Für Anga war das richtige Leben das, was seine Vorfahren geführt hatten, draußen im Eis, wo sie von der Robbenjagd gelebt hatten, seine Großeltern so wie seine Urgroßeltern, und die wie ihre Eltern und deren Eltern. »Kannst ja in den Norden gehenund einen auf Robbenjäger machen«, hatte Aqqaluk gelästert. »Warum machst du das denn nicht?« Anga hatte nicht geantwortet, und als Aqqaluk nicht damit aufgehört hatte, ihn als Indianer und Trommeltänzer zu verspotten, war er aufgestanden und hatte uns sitzen lassen. Aqqaluks Vater hatte mir mal erzählt, wie das damals gewesen war, als man seine Familie nach Nuuk umgesiedelt hatte. Die dänische Regierung hatte sich mächtig angestrengt, den verstreut lebenden Inuitfamilien die Segnungen des zwanzigsten Jahrhunderts näherzubringen. »Natürlich war es praktisch, auf einmal elektrisches Licht zu haben und Heizungen und Klos mit Wasserspülung, für die jungen Leute war das eine große Sache gewesen. Aber für die Schlittenhunde war kein Platz mehr zwischen den Steinmauern«, hatte er gesagt. »Schlittenhunde sind in Nuuk sowieso nicht erlaubt«, hatte Aqqaluk eingewandt. Sein Vater hatte ihn nicht beachtet, sondern von seiner Jugend in Ilulissat erzählt, von den Fahrten über das Eis und von der Suche nach den Robben, dem Heulen der Hunde, dem Lachen der Männer, wenn sie am Lagerfeuer saßen und ihr Jagdglück feierten. »Das war in einem anderen Jahrtausend«, hatte er gesagt und Aqqaluk hatte auch ihn ausgelacht. »Klar war das in einem anderen Jahrtausend, Väterchen. 1950 oder so um den Dreh.«
Ich hatte Aqqaluks Wohnblock noch nicht erreicht, als ich einen leisen Pfiff hörte. Ich drehte mich um. Es war Maalia, die auf einem Felsbrocken saß, die Beine angezogen, die Arme um die Knie geschlungen, als wollte sie sich vor dem Wind und der Kälte schützen. Unter ihrerbunt gestreiften Wollmütze guckten die schwarzen Haare hervor. Ihre Augen konnte ich nicht erkennen.
»Hey, Pakku! Wo willst du denn noch hin?« Die gleiche Frage hatte ich gerade erst gehört.
»Weiß nicht. Zu Aqqaluk«, antwortete ich vage.
»Warum?«
»Warum nicht?«
Sie streckte die Beine, stand auf und kam auf mich zu. Wie selbstverständlich nahm sie mich bei der Hand. »Ich wüsste was Besseres«, sagte sie, »Pakku ...« Sie zog das u am Ende meines Namens länger, als es nötig war; es klang verlockend und sexy.
Der eisige Wind prickelte mir auf den Wangen, aber mir wurde trotzdem heiß. Mein Mund war plötzlich trocken. Klar, Aqqaluk hatte recht gehabt. Maalia wollte was von mir. Und ich von ihr. Oder warum war ich mitten in der Nacht bei dem Dreckswetter zu den Blocks gelaufen?
Sie stand dicht vor mir, mit leicht geöffnetem Mund. Wie feiner Rauch kräuselte sich ihr Atem in der Kälte. »Weißt du, dass Kinder, die bei Nordlicht gezeugt werden, besonders intelligent werden?«, fragte sie mich. Jetzt konnte ich ihre schmalen, dunklen Augen
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