Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ins Nordlicht blicken

Ins Nordlicht blicken

Titel: Ins Nordlicht blicken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Franz
Vom Netzwerk:
nichts mehr zu sehen. Nur noch das kalte, klar umrissene Licht des Computers.
    hallo! bist du noch da?
    ist doch egal, oder?
    was?
    alles
    finde ich nicht. mit 5 und 6 werf ich dich raus
    na los
    –
    glückwunsch!
    noch ein spiel?
    klar. hol mir nur schnell was zu essen
    Ich ging in die Küche, wo mein Vater am Küchentisch saß und Zeitung las. Das heißt, er blätterte darin herum und schob sich dabei kalte Fleischbällchen in den Mund, die er von Brugsen mitgebracht hatte. Er sackte immerdie Sachen ein, die das Verfallsdatum überschritten hatten. War zwar nicht erlaubt, aber machten natürlich trotzdem alle.
    Ich schaufelte mir einen Teller voll, kleisterte alles mit Senf ein und wollte wieder in mein Zimmer.
    »Warte mal, Pakku«, nuschelte mein Vater. »Ich muss was mit dir besprechen.« Er spülte den Klops, der ihn am Sprechen hinderte, mit einer halben Flasche Bier hinunter, popelte ein Stückchen Fleisch mit dem Fingernagel zwischen den Zähnen hervor und schob mir gleichzeitig mit dem Fuß unseren zweiten Küchenstuhl zu.
    »Ich hab jetzt keine Zeit«, sagte ich. Und setzte mich. Es war der Weg des geringsten Widerstands, weil er mir sonst hinterhergetappt wäre in seiner betrunkenen Hartnäckigkeit, schwankend und zielstrebig wie ein kraftloser Eisbär, der die einzige Beute verfolgt, die er seit Wochen vor die Nase bekommen hat.
    »Pass mal auf«, sagte er und fuchtelte mit der Gabel herum. »Es ist bald warm genug. Wir könnten ein Volk aus Dänemark importieren!«
    »Was willst du?« Hatte er sich jetzt völlig den Verstand vernebelt? Ich musterte ihn kritisch und warf dann einen Blick auf die aufgeschlagene, senfgelb bekleckerte Zeitung. Vielleicht hatten sie mal wieder was darüber geschrieben, dass Grönland eine der höchsten Selbstmordraten der Welt hatte. Selbstmord, Mord, tödliche Unfälle, alles im Überfluss. Und jetzt machten sie sich Gedanken darüber, wie man das ausgleichen konnte. Doch im selben Moment begriff ich auch schon, was mein Vater meinte. Klar, er sprach von seinen Bienen.
    »Es gibt da nur ein kleines Problem, Pakku. Die Viecher sind nicht billig. Ein Bienenvolk kostet mindestens 750 Kronen plus die Kosten für den Transport. Und dann kommt ja noch die Ausrüstung dazu und die Honigschleuder.« Er bückte sich, um in seiner großen Brugsentüte herumzukramen, als hoffte er, dort ein Bündel Kronen zu finden. Als er wieder hochkam, hatte er eine Flasche in der Hand.
    »Dann solltest du vielleicht keinen Wodka kaufen«, sagte ich.
    Er drehte den Verschluss der Flasche auf, ohne mich anzusehen. Sein rotes, verschwommenes Gesicht wurde noch röter. Er hatte die Flasche bei Brugsen geklaut. Eingepackt, nannte er das. Irgendwann würden sie ihn beim Einpacken erwischen und dann konnte er einpacken. Warum war er nur so erbärmlich dumm? Ich glaube, ich war noch keine elf Jahre alt, da hatte ich das Gefühl, dass ich auf meinen Vater aufpassen muss und nicht umgekehrt. Manchmal hab ich ihm einen Eimer Schnee ins Gesicht gekippt, bevor ich zur Schule ging, damit er aus dem Bett kam und zur Arbeit schlappte.
    Ich stand auf. »Ich hab zu tun«, sagte ich und ging in mein Zimmer. Der kleine Raum mit den hellgrau gestrichenen Holzwänden, eine Höhle unter dem Eis, die außer mir fast niemand betrat. Hier hatte ich alles im Griff, hier brauchte ich nichts anderes zu tun, als mit einem Mausklick zu reagieren. Die Regeln waren klar. Und wenn mir was nicht passte, konnte ich jederzeit aufhören.
    bin wieder da
    und? was gibt’s zu essen?
    gulasch, zum nachtisch erdbeeren mit schlagsahne
    klingt gut. wer hat das gekocht?
    mein vater
    toller vater! ☺
    wahnsinnig toll
    Mist! Was hatte ich denn da geschrieben? Erstens hatte mein Vater noch nie irgendwas anderes gekocht als Nudeln oder Rührei. Und zweitens hatte ich absolut nicht vorgehabt, Spider etwas von meinem Vater zu erzählen. Ich wollte ihm überhaupt nichts erzählen. Aber ich hatte auf Senden geklickt und zurücknehmen ging nicht.
    Ich hatte plötzlich keine Lust mehr zu spielen. Ich schob meinen Schreibtischstuhl zur Seite, schaltete den PC aus, holte mir im Flur meine Jacke und machte die Haustür auf.
    »Paggu ...«
    Das war er, eine Viertelflasche Wodka schwerer als vorhin. Zögernd blieb ich im Eingang stehen. »Was ist?«
    »Wo wissu denn noch hin?«
    »Weiß nicht. Zu Aqqaluk.«
    »Zu Aqqaluk«, wiederholte er, als müsste er nachdenken, wer das denn noch mal war.
    Ich lief die Straße hinunter, wie immer gegen den Wind, und

Weitere Kostenlose Bücher