Ins Nordlicht blicken
stand auf und ging ans Fenster, hinter dem sich der Morgen rosa leuchtend ankündigte. Er wusste, dass er nicht mehr einschlafen konnte. Nicht nur, weil er aufgewühlt war durch das, was er in Qaanaaq begriffen hatte, sondern auch, weil ihm der Abschied von Grönland das Herz schwer machte.
Er hatte sich gegen dieses Land gesträubt und war voller Angst gewesen, es wiederzusehen. Aber er hatte die Angst überwunden, und das war gut so. Irgendwann imLaufe seiner Reise musste er wohl begonnen haben, dem siebzehnjährigen Pakku zu verzeihen. Dem einsamen Jungen, der er einmal gewesen war. Pakkutaq Wildhausen und die Schuld, die er auf sich geladen hatte, waren ein Teil seiner Identität, der unauslöschbar zu ihm gehörte. Genauso wie dieses merkwürdige, kalte Land seiner Jugend.
Aber trotzdem blieb da eine bohrende Unruhe, das Gefühl, das Wichtigste nicht geschafft zu haben. Er hatte sich um eine Entscheidung herumgedrückt, eine Entscheidung, bei der es nicht um seine Vergangenheit ging, sondern um seine Zukunft. Wer war er? Wer wollte er sein? Auf dem Rückflug von Qaanaaq, als ihm die ganze Tragweite seiner Flucht aus Grönland bewusst geworden war, hatte er endgültig verstanden, dass er nichts ungeschehen und nichts wiedergutmachen konnte. Weder sein Vater noch der fremde Junge würden wieder zum Leben erwachen, ganz egal, was er jetzt, neun Jahre später, tat oder bleiben ließ. Aber konnte er deshalb einfach in sein altes Leben zurückkehren, wenn er wieder in Hamburg war?
»Stehst du schon auf?« Sharys verschlafene Stimme holte ihn aus seinen Gedanken. Er ging zu ihr und setzte sich auf die Bettkante.
»Schlaf weiter, Shary«, sagte er leise. »Ich werde noch ein bisschen rausgehen, um Abschied zu nehmen.«
Shary richtete sich auf, er atmete ihren warmen Schlafgeruch ein. »Wie spät ist es?«, murmelte sie.
Jonathan drückte sein Gesicht in ihr Haar und unterdrückte ein Seufzen. »Noch sehr früh. Schlaf weiter«, wiederholte er und löste sich von ihr. Dann stand er aufund holte das Etui mit dem Werkzeug aus seiner Reisetasche.
Es hatte aufgehört zu regnen, als er durch Nuuk ging. Ein paar Frühaufsteher waren schon unterwegs zur Arbeit und in einem der Cafés saßen übernächtigte Touristen, die offenbar die helle Nacht durchgemacht hatten. Jonathan ging hinein und bestellte einen Kaffee, den er im Stehen an der Theke trank. Er hatte nicht die Ruhe, länger zu bleiben.
Außer Atem kam er auf dem Friedhof an. Ohne es zu merken, war er immer schneller gegangen, den sanften Hügel hinauf. Für einen Moment ließ er sich auf der Bank nieder, von der aus Shary die Aussicht über die Bucht von Nuuk bewundert hatte. Auf dem Fjord leuchteten weiß die Jachten und Segelboote, die vor Anker lagen. Nuuk hatte sich verändert in den letzten Jahren. Es war wärmer und lebendiger geworden. Doch irgendjemand zahlt immer den Preis. Nuuks Aufstieg war unlösbar verbunden mit dem Untergang anderer Orte dieser Welt.
Jonathan stand auf und ging durch die Reihen der Holzkreuze, bis er vor dem unbehauenen Findling stand. Ohne zu zögern, nahm er sein Werkzeug und kniete sich vor den Stein. Pakkutaq Wildhausen. Buchstabe für Buchstabe hämmerte er den falschen Namen aus dem Granit. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er schließlich den blanken Grabstein vor sich hatte. Dann meißelte er die richtigen Worte in den Stein. Jonathan Querido. Geboren 1994, gestorben 2011. Es war irritierend, den eigenen Namen auf einem Grabstein zu sehen, und trotzdem war es richtig so. Das Einzige, was er für den fremdenJungen hatte tun können, war, ihm seinen Namen zurückzugeben.
Als er ins Hotelzimmer zurückkehrte, hatte Shary schon ihre Tasche gepackt und gefrühstückt. Als sie Jonathans mit grauem Staub bedeckte Hände und Kleidung sah, schaute sie ihn fragend an. »Hast du im Bergwerk geschuftet?«
»So was Ähnliches«, antwortete er.
»Ich bin langsam nervös geworden. Ich hab schon befürchtet, du kommst nicht mehr rechtzeitig.« Sie legte den Kopf schief. »Oder willst du hierbleiben? In Grönland.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich hatte die ganze Fahrt über das Gefühl, dass dich hier was festhält. Und dass das nicht nur die Suche nach deinem Vater ist.«
Jonathan warf seinen Waschbeutel in die Reisetasche und schulterte sie. »Komm«, sagte er. »Wir müssen los. Ich hab keine Lust, das Schiff zu verpassen.«
»Du willst nicht darüber sprechen, oder?«
»Doch, das will ich«, antwortete Jonathan. »Das
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