Insel der Schatten
Moment, dann sagte er: »Das tut mir sehr leid, und ich sehe nun, dass mein Timing gar nicht ungünstiger hätte sein können. Es ist schon schlimm genug, dass Madlyn starb, bevor sie mit Ihnen Kontakt aufnehmen konnte. Aber nun ist Ihr Vater auch noch tot? Das zieht doch sicher einen Rattenschwanz weiterer äußerst unangenehmer Probleme nach sich.«
Sein aufrichtiges Mitgefühl rührte mich. »Ich stehe das schon durch«, antwortete ich, wobei ich die Tränen zurückhalten musste. »Wie heißt es doch so schön? Was uns nicht umbringt, macht uns nur noch härter.«
»Diesen Spruch habe ich schon immer für kolossalen Schwachsinn gehalten«, entgegnete er, was mir ein Lächeln entlockte. »Sind Sie denn sicher, dass Sie gerade jetzt hierherkommen wollen? Die Insel läuft Ihnen ja nicht weg. Wir haben Zeit.«
»Ich glaube, es würde mir guttun«, erklärte ich und merkte beim Aussprechen, dass diese Worte tatsächlich der Wahrheit entsprachen. »Tapetenwechsel – einen neuen Ort kennenlernen. Das wird die Leere vertreiben, die mich momentan umgibt.«
»Also gut«, meinte er. »Aber ich muss Sie um etwas bitten. Warten Sie, bis Sie mit mir gesprochen haben, bevor Sie irgendjemandem auf der Insel den wahren Grund für Ihren Besuch verraten. Es ist besser so, glauben Sie mir. Sie wollen bestimmt keine neugierigen Fragen beantworten, ehe Sie nicht alle Fakten kennen.«
Und dann zählte William Archer eine Liste praktischer Dinge auf, die ich einpacken sollte – Pullover, Jeans, feste Stiefel, eine warme, wasserdichte Jacke – und erbot sich sogar, für mich einen Platz auf der Fähre und ein Zimmer in einer Pension zu reservieren.
»Ich sorge auch dafür, dass Sie an der Anlegestelle abgeholt werden«, endete er schließlich.
Und damit war es beschlossene Sache, dass ich fahren würde. »Danke, Mr. Archer. Ich finde es sehr nett von Ihnen, dass Sie so viel für mich tun.«
»Ich freue mich, Sie am Montag zu sehen.« Mit diesen Worten legte er auf.
Ich stand ein paar Minuten lang mit dem Hörer in der Hand da und fragte mich, worauf ich mich da eingelassen hatte. Dass Richard inzwischen hinter mich getreten war, hatte ich gar nicht bemerkt.
»Willst du verreisen?«, fragte er, zog die Brauen hoch und goss dampfenden Kaffee in einen Becher.
Ich öffnete den Kühlschrank und reichte ihm die entrahmte Milch. »Zucker ist in der Dose auf der Theke.«
»Nettes Ablenkungsmanöver. Ich habe dich etwas gefragt.« Lächelnd rührte er seinen Kaffee um. »Du willst auf diese Insel, nicht wahr?«
Ich schenkte mir ebenfalls ein und sank auf einen Stuhl am Tisch. »Ich fliege am Montag«, bekannte ich.
»Hältst du das wirklich für klug? Ausgerechnet jetzt? Nach allem, was du durchgemacht hast? Sie ist nicht mehr dort, Hallie.«
»Ich weiß. Aber sie hat all die Jahre dort gelebt, Richard! Und ich habe dort gelebt, und mein Dad auch. Vielleicht …« Ich wusste nicht weiter. Die Wahrheit war, dass ich mir selbst nicht sicher war, was ich da tat oder auch warum.
Er griff über den Tisch hinweg nach meiner Hand. »Wenn du wirklich fest dazu entschlossen bist, komme ich mit.«
»Das klingt verlockend.« Ich lächelte ihn an, wohl wissend, dass ich nicht das haben konnte, was ich mir so wünschte. »Aber ich denke, ich muss das allein durchziehen. Ich habe keine Ahnung, wer ich wirklich bin, Richard! Alles, was man mir über meine Kindheit erzählt hat, war eine einzige Lüge. Vielleicht bringt mich diese Reise der Wahrheit näher. Ich werde meine Mutter nicht mehr kennenlernen, aber wenn ich den Ort sehe, an dem sie gelebt hat, bringt mich ihr das eventuell näher. Ich werde ihr Haus sehen und die Läden, in denen sie eingekauft hat. Ich werde durch die Straßen schlendern, die sie entlanggegangen ist, und vielleicht ihre Freunde treffen. Das ist nicht viel, ich weiß, aber wenigstens etwas.«
Richard trank einen großen Schluck Kaffee, dann blickte er mich über den Becherrand hinweg besorgt an.
»Es gibt noch einen anderen Grund für diese Reise«, fuhr ich fort. »Ich möchte einfach wissen, was an unserem Leben mit Madlyn Crane auf Grand Manitou Island so schrecklich war, dass es Dad dazu bewogen hat, mich von dort fortzubringen und hierherzuziehen. Vielleicht leben dort ja noch Leute, die mir diese Frage beantworten können. Darauf hoffe ich jedenfalls.«
»Sei vorsichtig mit dem, was du dir da wünschst«, warnte Richard mit erhobenem Zeigefinger. »Was du ans Licht bringst, könnte auch ziemlich
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