Insel der Schatten
flüsterte mir zu: »Hilf mir. Ich habe Angst.«
Dann entdeckte ich die Bildunterschrift: Halcyon Crane, 1974 – 1979.
»Das bist du, mein Schatz«, stellte Richard sachlich fest.
Wir sahen einander schweigend an. Es gab keine passenden Worte für diesen Augenblick.
Stunden später, als Richard bereits im Gästezimmer schnarchte, schlich ich noch einmal nach unten ins Wohnzimmer und klappte den Laptop auf, dessen heller Bildschirm bald im Dunkeln schimmerte. Ich wusste selbst nicht recht, wonach ich suchte. Nach weiteren Informationen über sie? Einem Weg, sie irgendwie besser kennenzulernen? Was ich fand, war ein Artikel auf der Homepage der Chicago Sun Times.
›Seelenfängerin‹ erliegt Herzinfarkt
Laut William Archer, ihrem Anwalt, starb die Fotografin Madlyn Crane am Donnerstag in ihrem Haus auf Grand Manitou Island. Als Todesursache wurde ein Herzinfarkt angegeben.
Mrs. Crane, die vier Jahrzehnte lang zu den bedeutendsten Künstlern dieses Landes zählte, war, neben ihren vielen anderen fotografischen Arbeiten, bekannt für ihre fesselnden Portraits. Ob Prominente, Menschen, die sie auf ihren Reisen kennenlernte, oder auch Tiere – Madlyn Crane hatte eine besondere Begabung dafür, das innerste Wesen ihrer favorisierten Objekte bloßzulegen, was ihr den Spitznamen einer ›Seelenfängerin‹ eintrug, den sie später auch als Titel eines Portraitbandes verwandte. Als ihr Ruhm wuchs, weigerten sich viele Berühmtheiten, sich in schwierigen Phasen ihres Lebens von der ungewöhnlichen Künstlerin ablichten zu lassen, weil sie fürchteten, unter den gespenstisch durchdringenden Augen der Fotografin womöglich zu viel von sich preiszugeben.
Mrs. Crane hinterlässt keine Hinterbliebenen.
»Scheinbar doch«, sagte ich leise zu mir selbst. Dann kramte ich William Archers Brief aus der Küchenschublade, in die ich ihn gestopft hatte, und wählte die auf dem Briefkopf angegebene Nummer, wohl wissend, dass ich zu dieser späten Stunde wohl nur den Anrufbeantworter erreichen würde. Aber ich wollte unbedingt anrufen, solange ich noch die Nerven hatte, eine Lawine ins Rollen zu bringen, die ich bei Tageslicht betrachtet wahrscheinlich lieber gar nicht ausgelöst hätte.
»Hier spricht Hallie James«, teilte ich Mr. Archers Anrufbeantworter mit, der kurz darauf tatsächlich ansprang. »Ich habe Ihren Brief erhalten und rufe an, um Ihnen mitzuteilen, dass ich nächste Woche auf die Insel komme. Bitte setzen Sie sich morgen mit mir in Verbindung, damit wir die Angelegenheit genau besprechen können.«
Ich nannte meine Nummer, legte den Hörer auf und seufzte im Dunkel meiner Küche. Und dann kroch ich wieder in mein leeres Bett, wo ich mich die ganze Nacht lang schlaflos von einer Seite auf die andere wälzte.
Früh am nächsten Morgen klingelte das Telefon.
»Spreche ich mit Ms. James?«
»Ja.« Ich lächelte in den Hörer. »Ich bin Hallie.«
»Hallie, ich bin William Archer«, erwiderte eine Stimme. »Ich rufe an, weil Sie nächste Woche auf die Insel kommen wollen. Ich kannte Madlyn sehr gut und möchte Ihnen versichern, dass ich alles, was Sie mir erzählen, streng vertraulich behandeln werde.«
»Danke«, begann ich. »Aber ich weiß nicht recht …«
Er unterbrach mich. »Wenn ich kurz erklären dürfte? Es geht um bestimmte Dinge, über die wir am besten unter vier Augen sprechen, wenn Sie hier sind. Nur so viel …zum Einen wäre da die Frage zu klären, was mit Mrs. Cranes Landsitz geschehen soll, und dann müssten wir noch auf den heiklen Punkt Ihrer …nun, wenn ich offen sein darf …Ihrer Existenz zu sprechen kommen.«
»Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.« Mein Magen begann sich zusammenzukrampfen. Vielleicht war das alles doch keine so gute Idee.
»Hallie, ich weiß, dass Sie Madlyns Tochter sind, aber außer mir niemand sonst auf der Insel, soweit mir bekannt ist. Und zwar liegt das an gewissen Ereignissen, die Ihre …Abreise vor vielen Jahren begleitet haben. Ich war selbst noch ein Kind, als es geschah, aber über die näheren Umstände ist auf der Insel fast jeder im Bilde.«
Fast jeder? »Könnten Sie sich etwas genauer ausdrücken? Ich tappe völlig im Dunkeln.«
»Das besprechen wir besser persönlich«, beharrte er. »Ich habe jetzt nur aufgrund des Umstandes davon angefangen, dass Sie und Ihr Vater noch am Leben sind …«
»Mein Vater ist tot«, unterbrach ich ihn. Die Worte kamen mir kaum über die Lippen. »Er wurde gestern beerdigt.«
»Oh.« Er schwieg einen
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