Insel der Träumer
ihm das Unglück überlebt?
Mythor schob sich wieder auf das Brett und kniff die Augen zusammen. Es fiel schwer, auf den lichtergekrönten Wellen überhaupt etwas zu erkennen. Seine Augen schmerzten, so wie sein ganzer Körper. Er fühlte sich geschunden und gemartert, doch der Schmerz seines Körpers war nichts gegen die Verzweiflung, die ihn erfasste, als ihm klar wurde, dass er allein war.
Dennoch weigerte er sich, dies zu akzeptieren. Er rief nach Sadagar und den anderen Männern, mit denen er die Insel verlassen hatte. Er kannte sie nicht einmal alle beim Namen.
Nur der schwache Wind antwortete und das leise Plätschern der Wellen, die an das Brett schlugen. Sie wollten ihn in einen neuen, tiefen Schlaf wiegen, und etwas in ihm war nur zu gerne bereit, ihnen zu folgen. Mythors Kehle war trocken und kratzte. Sein Magen knurrte, doch er hatte weder Nahrungsvorräte noch Trinkwasser. Hier herrschte nur eine gelinde Strömung, und die Sonne mochte ein dutzendmal im Westen versinken, ehe er eine fremde Küste vor sich sah. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit, während er so dahinglitt, leicht geschaukelt wurde und Meeresluft atmete.
Hatten sie das Wagnis auf sich genommen, nur um hier, mitten im feuchten Nirgendwo, qualvoll zugrunde zu gehen? Hatte ein grausames Schicksal ihn nur vor dem schnellen Ertrinken bewahrt, damit er seine letzten Stunden mit Selbstzweifeln und in der Erkenntnis seiner eigenen Bedeutungslosigkeit erlebte?
Mythor bäumte sich dagegen auf. Nein, solange noch ein Funke Leben in ihm war, solange er atmen und denken konnte, wollte er sich nicht geschlagen geben! Zorn stieg in ihm auf. Mit einer Hand riss er sich das Wams auf und sah Fronjas verzerrtes Spiegelbild auf dem Wasser. Und ihr Mund schien sich zu öffnen, schien ihm zuzurufen: Gib nicht auf, Mythor! Kämpfe, Bruder des Lichtes! Kämpfe für dich und jene, deren Hoffnungen auf dir ruhen!
Schaumperlen spritzten auf und regneten auf das Gesicht im Wasser herab, das nun wie ein Mosaik war, dessen Steine einer nach dem anderen erloschen. Mythors Hand fuhr hinein. »Bleib!« schrie er.
Doch sie war bei ihm, durch unbegreifliche Bande auf ewig mit ihm verbunden. Sie gab ihm Kraft und neue Hoffnung, auch, als die Sonne versank und der Mantel der Nacht sich über ihn breitete. Ruhig trieb er weiter, und einige Male sah er andere Trümmerstücke in der Nähe treiben. Um Kraft zu sparen, blieb er mit gespreizten Beinen auf seinem Brett liegen und ruderte mit den Armen, bis er sie erreichte. Aber niemand klammerte sich an sie.
Der zweite Tag auf See dämmerte herauf, und die Sonne verbrannte Mythors Gesicht und ließ seine Lippen aufplatzen. Der Hunger raste in seinen Eingeweiden, und er fühlte seine Zunge anschwellen. Wie oft er Wrackteile in der Ferne sah, wusste er am Abend nicht mehr zu sagen. In Gedanken klammerte er sich an Fronja. Doch wann sah er endlich die Lichter einer Hafenstadt? War ein Schiff auf dem Weg über die Strudelsee?
Abermals färbten die Strahlen der untergehenden Sonne das Firmament in der Farbe des Blutes. Abermals erschienen die Sterne, bedeckte das neblige Band den Himmel im Süden. Mythor konnte sich nicht länger wach halten. Er schlief ein, und böse Träume plagten ihn. Er sah sich selbst, wie er nach Süden trieb, immer weiter, immer näher heran an dieses neblige Band, das heller und strahlender wurde. Glühende Himmelssteine zogen ihre Bahnen am Firmament und schlugen zischend und rauchend neben ihm ins Wasser. Und er war nicht länger allein. Sadagar schwamm neben ihm. Er brauchte nur die Hand nach dem Steinmann auszustrecken, um ihn zu berühren. Er konnte die Stimme des Freundes hören. »Mythor…«
Die Stimme rüttelte an ihm, schob sich immer mehr ins Zentrum seiner Träume, wurde lauter… lauter…
Mythor riss die Augen auf, doch da waren keine Himmelssteine mehr über ihm, kein glühendes Band.
»Mythor! Bei Erain, so höre doch!«
Und das war keine Traumstimme! Der Sohn des Kometen drehte unter Schmerzen sein Haupt und sah den Steinmann, wie er sich gleich ihm an ein Trümmerstück des Bootes klammerte und eine Hand nach ihm ausstreckte. Mythor lachte wie einer, dessen Geist von Finsternis umnebelt war, und griff nach ihr. Seine Finger fuhren nicht hindurch.
»Sadagar!« flüsterte er heiser. »Bei Quyl, du bist es wirklich.«
»Wir sind gerettet, Mythor!« hörte er wie aus weiter Ferne. »Sieh doch die Lichter! Das ist ein Schiff!«
Ungläubig starrte Mythor den Gefährten an.
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