Insel meiner Sehnsucht Roman
brüsken Geste winkte sie ihre Gehilfinnen zu sich. »Nun lassen wir Sie allein, Prinzessin, damit Sie sich auf den Abend vorbereiten können. Aber morgen komme ich wieder, und wir befassen uns mit den nächsten Anproben.«
Bestürzt erbleichte Kassandra. Doch sie entstammte einer uralten, charakterfesten Familie. Sogar das würde sie überleben.
In der Zwischenzeit hatte sich Joanna hingelegt und ausgeruht. Darauf hatte Alex bestanden und betont, sonst würde er ihr nicht erlauben, an diesem Abend das Carlton House zu besuchen. Nun gesellte sie sich zu Kassandra. Getreu ihrem Versprechen beschrieb sie die Fehden, Schwächen und Marotten der Londoner Gesellschaft. Besonders ausführlich ging sie auf die Arrangements ein, die diskrete Feigenblätter über die Familiennamen der Kinder von fragwürdiger Herkunft legten.
»In der Blüte ihrer Jugend gebar Lady Melbourne, die Spinne, sechs Kinder«, erklärte Joanna. »Zumindest zwei wurden, falls man den Gerüchten glauben darf, nicht von Lord Melbourne gezeugt. Und sie ist keineswegs die einzige Londoner Dame, die sich auf außereheliche Beziehungen eingelassen hat.«
»Obwohl ich mich nicht für naiv halte, muss ich gestehen, dass ich schockiert bin. Schläft denn niemand in seinem eigenen Bett?«
»Allem Anschein nach kommt das nur selten vor. Eine moralische Gesinnung, so wie wir beide sie verstehen, existiert in dieser Stadt nicht. Und die einzige Regel lautet ›Diskretion‹ – gilt aber nur für die Frauen und wird eher großzügig ausgelegt. Die Männer tun, was ihnen beliebt.«
»Und das gefällt den Leuten? Sind sie glücklich?«
»Nein, soweit ich es feststellen konnte. Und ich glaube, bis zu einem gewissen Grad erkennen sie das auch. Erinnerst du dich, was die alten Römer zu sagen pflegten? ›Nutze den Tag‹ … ›Was morgen sein wird, frage nicht.‹ An dieses Motto hält sich die Londoner Crème de la Crème.«
»Dadurch sind diese vornehmen Herrschaften ziemlich gefährlich, nicht wahr?«
»Ja, für andere und sich selbst. Aber eins muss man ihnen zugestehen: Sie heucheln nicht, und sie haben ein bewundernswertes Stilgefühl, das alles einbezieht – Mode, Musik, Bücher, auch Gebäude, sogar ganze Straßenzüge. Sie gestalten ihre Welt nach ihrem speziellen Geschmack.«
»Sie? Zählst du dich nicht dazu?«
»Nein, ebenso wenig wie Alex und Royce. Wir bewegen uns in diesen Kreisen, weil das die sicherste Methode ist, um gewisse Ereignisse zu beeinflussen. Doch wir gehören nicht dazu. Ihre Wertmaßstäbe und Sorgen sind nicht unsere. Als Prinz von Akora stand Alex immer etwas abseits, und das trifft auch auf meinen Bruder zu. Wie alle seine Hawkforte-Vorfahren dient er England, oder vielleicht sollte ich besser sagen – er dient einem idealen England, das er verwirklicht sehen möchte.«
Da Kassandra Bescheid wusste über Visionen und den Dienst, den sie einem abverlangten, nickte sie.
Nun gingen sie in den großen Salon, wo sie von Alex erwartet wurden. An den Anblick ihres Bruders in britischer Kleidung musste sich Kassandra erst noch gewöhnen. Auf Akora war er eindeutig ein Prinz aus dem Atreiden-Haus, nichts anderes – hier änderte er seine Identität und trug die von seinem britischen Vater ererbten Titel des Lord Alex Haverston Darcourt, des Marquess of Boswick, des Earl of Letham und des Baron Dedham. Diese Rolle spielte er perfekt, in einem maßgeschneiderten Frack und einer passenden Kniehose, mit weißem Hemd und weißer Krawatte. Obwohl er erklärte, das sei keine höfische Aufmachung, da der Abend eher informell verlaufen würde, fand ihn seine Schwester sehr imposant – zumindest, bis Royce eintraf und es ihr vor Überraschung fast die Sprache verschlug.
Er war so ähnlich wie ihr Bruder gekleidet, trug jedoch einen jagdgrünen Frack, während Alex einen dunkelgrauen vorzog. Das goldblonde Haar war glatt zurückgekämmt. Als er Kassandra entdeckte, leuchteten seine Augen auf, und sie las unverkennbare Bewunderung in seinem Blick.
»Beide Damen sehen hinreißend aus«, bemerkte er, ohne sich von ihr abzuwenden.
» Hier bin ich, Royce!«, sagte Joanna und winkte ihm.
Nur sekundenlang errötete er, bevor sein angeborenes Selbstvertrauen zurückkehrte. »Das ist unübersehbar«, erwiderte er grinsend. »Willst du dir das Gedränge heute Abend wirklich antun?«
»Oh, ein gewisser Jemand wird schrecklich gut auf mich aufpassen«, seufzte sie und wies mit dem Kinn in die Richtung ihres Ehemanns. »Außerdem müssen wir
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