Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
PROLOG
Ostküste Schottlands
Dezember 1745
»Sacré brouillard.«
Unruhig trat Kapitän Jacques Ferrand von einem Fuß auf den anderen, während er den Mantel um seine Schultern enger zog und die Planken unter seinen Stiefeln knarrten. Er hatte das Gefühl, dass die Kälte und der Nebel nicht nur unter seine Kleider krochen, sondern auch unter seine Haut, und sich direkt auf seine schmerzenden Knochen legten.
Wie er den Norden hasste!
Seine Gedanken schweiften ab, flüchteten aus dem kalten Grau dieser Nacht in das weiche, sonnenwarme Licht des Luberon, wo er geboren war und seine Kindheit und einen Teil seiner Jugend verbracht hatte, ehe er dem Lockruf des Abenteuers gefolgt und zur königlichen Marine gegangen war. In Nächten wie diesen hätte er manches darum gegeben, wieder zu Hause zu sein, in dem kleinen Haus, das er sein Eigen nannte und wo seine Frau und seine vier Kinder auf ihn warteten; im Garten zu sitzen, den Duft der nahen Lavendelfelder zu riechen und auf die ockerfarbenen Felsen zu blicken, die im Licht der untergehenden Sonne …
»Mon capitaine!«
Lieutenant Luriel, sein Erster Offizier, war zu ihm getreten. Die Miene des jungen Mannes war angespannt, beinahe besorgt.
Ferrand nickte. Es war Zeit.
Mit einem Handzeichen gab er Luriel zu verstehen, dass die Fahne eingeholt werden sollte. Es widersprach Ferrands aufrichtigem Wesen, sein Schiff auf diese Weise unkenntlich zu machen und sich wie ein Dieb in dunkler Nacht der Küste entgegenzuschleichen, ohne Hoheitszeichen, die Lampen an Bord sämtlich gelöscht. Doch die Mission erforderte es; die Ladung, die die Espérance an Bord hatte, machte es unumgänglich.
Ferrand blickte am Mast empor, dessen Top sich in Dunkelheit und Nebel verlor, sah die schemenhaften Gestalten zweier Matrosen das Lilienbanner einholen und falten. Niemand sollte sehen, dass es ein französisches Schiff war, das der Küste entgegenhielt. Um das Versteckspiel zu komplettieren, waren Ferrand und seine Mannschaft auch angewiesen worden, ihre Uniformen abzulegen und sich als Handelsschiffer zu tarnen – ein weiterer Winkelzug, der dem Kapitän der Espérance nicht behagen wollte. In seiner langen Karriere als Offizier zur See hatte er zahllosen Stürmen getrotzt und in vielen Gefechten gekämpft, doch diese Heimlichtuerei war ihm zuwider, kaum weniger als der Nebel und die Kälte.
Wie zum Spott lösten sich unvermittelt Schneeflocken aus dem Nachthimmel und fielen lautlos auf das Deck, was Ferrand eine weitere Verwünschung entlockte. Und fast im selben Moment konnte er erkennen, wie Wolken und Nebel für einen Moment aufrissen und den Blick auf ein schwarzes, scharf gezacktes Band freigaben, das am nahen Horizont verlief.
Die schottische Küste.
Leise gab Ferrand Befehl, die Segel zu reffen. Dann ließ er sich vom Maat eine Laterne reichen. Ferrand entzündete sie und trat damit an die Reling, und indem er die Flamme in dicht aufeinander folgenden Abständen mit dem Saum des Umhangs bedeckte, schickte er ein Lichtsignal zur Küste, so, wie es ihm aufgegeben worden war.
Der Kapitän spürte, wie sich sein Pulsschlag beschleunigte, während er das Signal in die Dunkelheit sandte, nicht nur, weil er damit die Position seines Schiffes preisgab, sondern auch, weil er sich nicht sicher war, ob er die richtige Bucht angesteuert hatte. Wegen der Wolken und des Nebels hatte Ferrand den Kurs zuletzt nur schätzen können und hoffte, dass die um diese Jahreszeit besonders starken Küstenströmungen die Espérance nicht zu weit nach Norden abgetrieben hatten. Und selbst wenn es der vereinbarte Treffpunkt war – würden die Kontaktleute, denen er die Fracht übergeben sollte, tatsächlich auf ihn warten?
Mit zu Schlitzen verengten Augen starrte der Kapitän zum gezackten Band der Küste.
Als dort alles dunkel blieb, wiederholte er das Signal. Und im selben Augenblick, da der Kapitän der Espérance den Umhang einmal mehr enger ziehen und das raue Wetter mit einer Verwünschung bedenken wollte, sah er inmitten der Schwärze etwas aufblitzen.
Es war nur ein schwaches Leuchten und so kurz, dass man schon einen Lidschlag später nicht mehr hätte sagen können, ob es sich womöglich nur um eine Täuschung gehandelt hatte. Aber dann wiederholte es sich, sodass kein Zweifel mehr möglich war.
Die andere Seite antwortete.
Jacques Ferrand war nicht eitel genug, um sich zu der nautischen Meisterleistung zu gratulieren, die er vollbracht hatte. Er gönnte sich
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